Grace Unplugged. Melody Carlson
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Sie wollte gerade ansetzen mitzusingen, als sie merkte, dass sich ihre Zimmertür öffnete. Sie riss sich die Kopfhörer von den Ohren und warf dem Eindringling einen bösen Blick zu, denn sie vermutete, dass es ihr Vater war. Konnte er ihr denn keine Privatsphäre mehr lassen?
»Entschuldige bitte.« Herein kam ihre Mutter. »Ich habe geklopft, aber du hast es wohl nicht gehört.«
»Oh.« Grace nickte.
»Hier ist deine Gitarre.« Ihre Mutter lehnte den Koffer an ihren Schreibtisch und blieb dort stehen.
»Danke.« Grace wollte sich wieder die Kopfhörer auf die Ohren schieben.
»Moment noch.« Ihre Mutter hob die Hand.
»Was denn?«
»Was das College angeht …« Ihre Mutter sah besorgt aus. »Ich verstehe, wie du dich fühlst, Grace, aber du musst auch unsere Sicht verstehen. Wir wissen, wie wichtig eine gute Ausbildung ist. Und ich glaube, du weißt es auch. Du warst immer fleißig in der Schule. Du bist eine gute Schülerin. Der nächste logische Schritt ist das College. Das siehst du doch bestimmt auch so.«
Grace zuckte mit den Schultern. »Nicht so wirklich.«
»Ich glaube, wir müssen uns mal mehr Zeit nehmen, um das zu besprechen. Was meinst du?«
Sie biss sich auf die Lippe. Vor allem wollte sie dieses Gespräch gerade jetzt überhaupt nicht führen.
»Wir lieben dich, Süße. Wir wollen das Beste für dich.«
»Vielleicht ist Musik ja das Beste für mich!«
Worauf ihre Mutter in eine Kurzpredigt darüber verfiel, wie viele Musiker in diesem Land kaum genug zum Leben hatten. Aber Grace blendete sie einfach aus. Das hatte sie alles schon mal gehört. Irgendwann hatte ihre Mutter wohl verstanden, dass es keinen Sinn hatte, denn sie schaute auf die Uhr. »Also, Papa und ich gehen um zwei zu den Fultons, die feiern ihre Silberhochzeit. Da wird wohl schon richtig was los sein.« Sie grinste amüsiert. »Du kannst gerne mitkommen, wenn du möchtest.«
Grace schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass bei den etwas spießigen Nachbarn wirklich richtig was los sein sollte. »Danke, Mama, … aber nein danke.«
Die Party bei den Fultons ging dann wohl doch den ganzen Tag, denn es war schon dunkel, als Grace hörte, wie ihre Eltern nach Hause kamen. Irgendwie fühlte sie sich ausgeschlossen und war versucht gewesen, doch hinüberzugehen und die Lage zu checken. Aber jetzt, da ihre Eltern zu Hause waren, zog sie es vor, weiter zu schmollen. Eigentlich war es viel mehr als das. Sie wollte ein Zeichen setzen – ein Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Wenn man das mit achtzehn noch nicht durfte, wann dann? Irgendwann würden ihre Eltern auf sie hören müssen.
Als sie ein leises Klopfen an der Tür hörte, schaltete sie die Musik auf dem Laptop aus, öffnete stattdessen das Mail-Programm, atmete tief durch und sagte »Herein«. Ring frei zur nächsten Runde – sie war bereit!
»Hey«, sagte ihr Vater sanft und kam ins Zimmer.
»Hey«, erwiderte sie, leicht irritiert von seinem bemüht freundlichen Ton. War es möglich, dass er seine Meinung geändert hatte? Sicherheitshalber starrte sie weiter auf den Laptop und tat so, als würde sie Mails checken. Sie wollte ihm nicht in die Augen sehen. Klar, manchmal hasste sie seinen konservativen Erziehungsstil, aber meist liebte sie ihn, und sie wusste, dass er sie mit den richtigen Worten schon nach kurzer Zeit erweichen konnte.
»Hör mal, was du da im Auto gesagt hast …«
»Was? Du hast recht, ich habe unrecht. Hab’s schon verstanden.« Sie wollte lässig klingen, aber ihr war klar, dass sie eher feindselig wirkte. Sie würde nicht einfach so aufgeben.
»Bitte sei nicht so.« Er kam und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wie bin ich denn? Du hast ja offensichtlich schon alles entschieden.« Sie schob den Laptop zur Seite und sah ihn trotzig an. Aber sie sah die väterliche Sorge in seinem Blick und wusste, dass er sie erweichen könnte, wenn er wollte.
»Grace, wir zwingen dich doch nicht, aufs College zu gehen. Das Problem ist nur, dass Musik unbeständig ist. Das weißt du doch.« Er sah sie hoffnungsvoll an. »Wir wollen nur das Beste für dich, Süße.«
»Gut. Gehe ich eben aufs College. Bist du fertig?« Sie wollte einfach nur, dass das Gespräch vorbei war. Außerdem wusste sie, wie kindisch und egoistisch sie sich benahm. Sie mochte sich selbst nicht. Um seinem Blick zu entgehen, griff sie nach ihrer Gitarre. Er hatte gewonnen, oder? Warum ging er dann nicht einfach? Warum ließ er sie nicht einfach noch eine Weile schmoren? Stattdessen zog er etwas aus seiner Tasche, das wie eine Schmuckschachtel aussah. Was kam denn jetzt?
»Ich weiß, dein Geburtstag war schon letzte Woche«, begann er entschuldigend. »Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist oder ob es den überhaupt noch gibt, aber es ist leider eben erst angekommen.« Er legte die Schachtel auf ihren Schreibtisch und trat einen Schritt zurück.
»Was ist das?« Sie legte ihre Gitarre zur Seite und ging zum Schreibtisch. Was ging denn hier ab? Erwartungsvoll öffnete sie die Schachtel und war überrascht, darin einen hübschen silbernen Ring zu finden. Plötzlich fühlte sie sich überrumpelt von einem solchen Geschenk – ganz zu schweigen davon, dass sie sich für ihr störrisches Verhalten heute schämte.
»Danke«, murmelte sie und nahm den Ring aus der Schachtel. Doch plötzlich dämmerte es ihr: Dies war kein normaler Ring, nicht einfach ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Natürlich nicht. Das war ein Versprechensring! Die Art Schmuck, die Väter ihren Töchtern schenkten, um sicherzugehen, dass ihre geliebten Mädchen keinen vorehelichen Sex hatten. Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Normalerweise machten Väter das, wenn ihre Töchter in der Mittelstufe waren. Und sie war doch noch nicht mal mehr auf der Highschool. Warum also jetzt?
»Das ist ein …«
»Ich weiß, was das ist, Papa.«
»Wahrscheinlich hätte ich das schon vor Jahren machen sollen, aber …«
Sie starrte den Ring an und versuchte, sich vorzustellen, sie sei dreizehn und überglücklich über dieses fürsorgliche Geschenk ihres Vaters. Aber irgendwie gelang es ihr nicht. Nicht bei diesem Stand der Dinge. Nicht nach einem Tag, an dem es ihr so vorgekommen war, als wolle er sie immer nur unter Kontrolle haben. Warum verstand er das nicht?
»Okay …«, begann sie langsam. »Du denkst also wohl, dass ich jetzt mit achtzehn anfange, mit allen möglichen Leuten ins Bett zu gehen, oder was?« Sie sah ihn eindringlich an.
»Natürlich nicht. Es ist bloß …«
»Papa, ich weiß, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich brauche keinen Ring als Erinnerung.« Sie steckte den Ring wieder in die Schachtel, ließ sie zuschnappen und legte sie auf den Schreibtisch. Die Arme verschränkt, den Blick starr auf den Boden gerichtet, ging sie einen Schritt zurück, als sei der Ring vergiftet, und wartete darauf, dass ihr Vater