Grace Unplugged. Melody Carlson
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Sie suchte sich einen Platz in den vorderen Reihen. Es fühlte sich komisch an, allein hier zu sein, aber sie setzte sich einfach und machte sich über ihr Popcorn her. Bald fing die Werbung an, und alle Gedanken an ihre Eltern und die Jugendgruppe und das College und das Leben an sich wurden übertönt von dem Lärm und der Musik und der Action auf der großen Leinwand vor ihr.
Als der Film zu Ende war, blieb Grace noch sitzen, als schon der Abspann lief. Nicht, dass es sie interessiert hätte, wer Kamera-Assistent oder irgendein Laufbursche gewesen war. Es war die Musik, die sie dort hielt. Sie tippte mit den Zehen im Takt zu einem abgenudelten Rocksong und fragte sich, ob sie jemals die Chance bekommen würde, so etwas zu spielen.
Grace fühlte sich ein bisschen unwohl, als die Lichter wieder angingen. Sie verließ das beinah leere Kino. Etwas an der ganzen Situation – Gemeindekind schleicht sich ins Kino und guckt zweifelhaften Film – kam ihr traurig und erbärmlich vor. Aber anstatt weiter darüber nachzudenken, schaltete sie im Auto einen Rocksender ein und sang laut mit, als sie über Umwege nach Hause fuhr. So kam sie zu der Zeit nach Hause, wie es nach der Jugendgruppe normal war. In der Auffahrt stand kein Auto mehr, also waren die Bryants wohl nach Hause gegangen.
An der Haustür bemerkte sie, dass sie ihre Gitarre im Auto gelassen hatte. Damit das Instrument nicht der feuchten Nachtluft ausgesetzt war, holte sie es schnell.
Als sie das Haus betrat, räumte ihre Mutter gerade im Wohnzimmer auf.
»Hallo«, begrüßte sie Grace lächelnd. »Wie war’s?«
»Ganz okay.« Grace sah ihren Vater in seinem Lieblingssessel sitzen, scheinbar in seinen Laptop vertieft. Sie vermutete, dass er trotzdem genau zuhörte. »Es war gut«, fügte sie hinzu, um noch überzeugender zu klingen, und legte den Autoschlüssel in die kleine Schüssel neben der Haustür.
»Hast du was gegessen?« Ihre Mutter fragte sie das jedes Mal nach der Jugendgruppe.
»Ja.« Grace war schon auf dem Weg in ihr Zimmer, doch ihre Mutter schien in Plauderlaune zu sein.
»Ich habe heute Morgen Rachels Mutter im Fitnessstudio getroffen«, sagte sie heiter. »Sie hat mir erzählt, dass Rachel im Herbst auch am Monroe-College anfängt.«
Grace umklammerte den Griff ihres Gitarrenkoffers fester, als das Wort auch in ihrem Kopf nachhallte, aber sie war entschlossen, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Jedenfalls, Rachel hat wohl offenbar irgendein Stipendium bekommen?«
Grace nickte nur und zwang sich, nicht etwas zu sagen wie: »Ja, ich weiß. Rachel ist perfekt. Nicht so wie eure nichtsnutzige Tochter.«
»Rachels Mutter meinte, die ganzen Studiengänge sind auch auf der Webseite aufgelistet. Praktisch, oder?«
Wieder nickte Grace nur. »Mhm.« Sie schaute noch einmal zu ihrem Vater, aber der schien immer noch in seinen Laptop vertieft zu sein. Seltsam, denn normalerweise hielt er es bei anderen für schlechte Manieren, so auf Technikspielzeug fixiert zu sein. Offenbar galten für ihn andere Regeln.
»Sprich: Wann immer du willst, Grace, kannst du einfach online ein paar Kurse für den Herbst aussuchen.«
»Cool.« Grace zwang sich zu einem Lächeln. »Ich leg mich jetzt mal ab.«
»Gute Nacht, Süße.« Ihre Mutter warf ihrem Vater einen Blick zu, als wäre auch ihr aufgefallen, dass er sich seltsam benahm.
»Gute Nacht«, sagte Grace auf dem Weg aus dem Zimmer.
»Hast du getankt?«, fragte ihr Vater, ohne seinen Blick vom Laptop zu nehmen.
Grace erstarrte.
Mann, wie hatte sie das nur vergessen können? Dabei wollte sie heute Abend besonders vorsichtig sein. Sie sah zu, wie ihr Vater nach seinem Glas griff und langsam einen großen Schluck Wasser trank, während er sie ansah, als wisse er schon Bescheid. Aber wie konnte er es wissen? War sie so leicht zu durchschauen?
»Papa, ich war gerade eingestiegen, da rief Paige an«, sagte sie schnell. »Sie war völlig aufgelöst und brauchte jemanden zum Reden. Na ja, und da habe ich das komplett vergessen. Ich fahre schnell noch mal los, ja?«
»Nein.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, erhob sich dann langsam und ging forsch zur Tür.
»Es tut mir leid, aber …«
»Schon gut.« Er schnappte sich die Schlüssel, stürmte aus der Tür und warf diese etwas zu geräuschvoll hinter sich zu.
»Wieso behandelt er mich wie ein kleines Kind?«, beschwert sie sich bei ihrer Mutter.
»Grace.« Ihre Mutter sah sie ernst an. »Das hast du verbockt. Du hast gesagt, du würdest es machen, und dann nicht Wort gehalten. Mal wieder.«
Grace schüttelte resigniert den Kopf. War ja klar, dass ihre Mutter sich auf seine Seite stellen würde.
»Weißt du, vielleicht zeigt dein Vater das nicht immer so, wie du es möchtest, aber er liebt dich so sehr. Warum siehst du das denn nicht?«
Grace holte tief Luft und überlegte sich eine Antwort. Doch dann zuckte sie einfach nur mit den Schultern und ging in ihr Zimmer. Warum sollte sie überhaupt noch diskutieren? Ihre Eltern hatten ihre Sicht der Dinge. Niemals würde sie das ändern können.
Leise schloss sie ihre Zimmertür und wünschte sich zum ersten Mal, sie richtig abschließen zu können. Nicht, dass sie vorgehabt hätte, hinter verschlossener Tür etwas Verbotenes zu tun. Sie wollte einfach eine Barriere zwischen sich und ihren Eltern errichten. Sie wollte ihren Freiraum!
Zum Glück gaben Kopfhörer ihr ein ähnliches Gefühl, selbst wenn das eher eine Illusion war. Trotzdem setzte sie sie auf die Ohren und öffnete ihren Laptop. Sie rief die Seite von Sapphire Music auf. Das war Renae Taylors Plattenfirma und eine der angesagtesten in der ganzen Szene.
Sie klickte eins von Renaes beliebtesten Videos an, um sich eine Weile einfach in der Musik zu verlieren. Sie war gerade dabei, sich zu entspannen, als es an der Tür klopfte. Nur mühsam unterdrückte sie den Wunsch, einfach »Lass mich in Ruhe!« zu brüllen, und sagte so gelangweilt wie nur möglich: »Komm rein.«
Als ihr Vater das Zimmer betrat, schloss Grace schnell die Sapphire-Webseite und klappte den Laptop zu. Dann sah sie ihn ausdruckslos an. Sie wusste, dass ihretwegen ihr so verärgert aussah. Sie war eine solche Enttäuschung für ihn – nur, weil sie vergessen hatte, zu tanken. Im Ernst, war das wirklich so schlimm?
Er hielt ihr ihre Bibel hin. »Hast du im Auto liegen lassen.«
»Oh.« Sie nahm die Bibel entgegen und stellte sie auf ihren Schreibtisch. »Danke.«
Ihr Vater wollte schon wieder Richtung Tür gehen, aber er hielt inne. Verwirrt fuhr er sich mit den Händen durch sein Haar. Das tat er nur, wenn ihn etwas richtig frustrierte. Etwas wie sie, zum Beispiel.
»Willst du mir noch etwas sagen?«, fragte er leise.
»Was?«