Das Judentum. Michael Tilly
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Nach dem Zusammenbruch des Widerstandes gegen die Römer und der Tempelzerstörung im Jahre 70, endgültig nach dem Bar-Kochba-Aufstand in den Jahren 132–135, war jedoch Galiläa zum Kernland des palästinischen Judentums geworden. Die prekären Lebensbedingungen im zeitgenössischen Judäa, dessen agrikulturelle Infrastruktur weitgehend zerstört worden war und wo von den Römern zahlreiche Veteranen, Syrer und Araber angesiedelt wurden, kommen allein darin zum Ausdruck, dass nach 135 zahlreiche jüdische Ortschaften Judäas überhaupt nicht mehr erwähnt werden. Es kam zu einer starken Abwanderung der überlebenden jüdischen Bevölkerung in die Länder der Diaspora, vor allem in das benachbarte Syrien und nach Babylonien. Manche folgten den römischen Legionen oder kamen auf den Fernhandelsstraßen des Imperium Romanum bis an die Ränder des römischen Reichs. Das jüdische Leben in Judäa, dem vormaligen geistigen und wirtschaftlichen Zentrum des Judentums, war im zweiten Jahrhundert nahezu erloschen. In Galiläa hingegen, dem nördlichen Teil der römischen Provinz Syria Palaestina, existierten zu dieser Zeit nicht nur mit Sepphoris und Tiberias zwei mehrheitlich von Juden bewohnte Städte, sondern auch eine sesshafte jüdische Landbevölkerung. Dieses galiläische Judentum war zahlenmäßig zwar relativ klein, aber im zweiten Jahrhundert fraglos der bestimmende Faktor im palästinischen Judentum.
Als Ansprechpartner Roms boten sich in dieser Zeit die rabbinischen Schülerkreise an, um die Verwaltung der problematischen Provinz zu organisieren und zu erleichtern. Die Gelehrten in Uscha boten aus der Perspektive Roms das Modell eines durchschaubar organisierten jüdischen Gemeinwesens ohne Tempel und ohne bedrohliche politische Ambitionen. Nach 138 erreicht das Patriarchat sukzessive die Stellung eines offiziellen Repräsentanten der gesamten Judenschaft im römischen Reich. Die Stellung des Patriarchen als Vertreter der eingeschränkt autonomen jüdischen Volksgruppe in Palästina entsprach rechtlich der Stellung eines Vasallenkönigs. Nahezu drei Jahrhunderte sicherte das Patriarchat den Frieden im Land und verhinderte Aufstände gegen Rom. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts erlosch das Amt des Patriarchen für immer.
Nach dem Bar-Kochba-Aufstand trat Rabbi Schimon ben Gamliel als Patriarch bzw. »Nasi« (»Fürst«) an die Spitze des Rabbinats. Er erfuhr nicht nur breite Anerkennung im jüdischen Volk, sondern auch Akzeptanz durch die römischen Behörden. Der in Uscha, später in Bet Schearim, in Sepphoris und schließlich in Tiberias residierende Patriarch war für Rom der Garant für das Wohlverhalten der Juden (Religionsfreiheit wurde im römischen Reich durch Privilegrecht geregelt). Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts wurde der Führer der rabbinischen Bewegung, Rabbi Jehuda ha-Nasi, dem auch die abschließende Redaktion der Mischna (vgl. Kap. 2, Die Mischna) zugeschrieben wird, von den Römern als Vertreter aller Juden Palästinas anerkannt. Das Patriarchat wurde im dritten Jahrhundert erblich.
Während der Herrschaft Konstantins I. (306–337/325) begann die zunehmende Bedrückung des Judentums unter dem Einfluss der Erhebung des Christentums zur staatlich privilegierten Religion. Das Edikt von Mailand (313) erlaubte die Ausübung der christlichen Religion im Reich. Konstantin II. (337–340) verbot 339 Juden das Halten nichtjüdischer Sklaven. Bekehrte ein Sklave sich zum Christentum, musste er von seinem jüdischen Herrn freigelassen werden. Das negative christliche Judenbild wurde nun zur allgemeinen Maxime. Die Ausübung der jüdischen Religion blieb zwar weiterhin erlaubt, wurde aber abhängig von der »wohlwollenden« Duldung durch die christlichen Herrscher. Damit endete die lange Tradition der Toleranz Roms gegenüber fremden Religionen und Kulten.
Mit dem Beginn der christlichen Bautätigkeit in Jerusalem scheint das alte Dekret, das Juden den Zutritt zur Stadt untersagte, wieder verschärft worden zu sein. Jüdische Pilger durften fortan nur noch an einem bestimmten Tag im Jahr auf dem Tempelplatz öffentlich trauern. Grund dieses Zugeständnisses war nicht die Anteilnahme der christlichen Machthaber an ihrem Geschick, sondern die demütigende Demonstration ihrer Verworfenheit (vgl. Mk 13,1ff.). Es wird berichtet, dass die jüdischen Besucher der Stadt den römischen Wachen Geld zahlen mussten, um auf dem Tempelplatz Tränen über die Zerstörung des Heiligtums vergießen zu dürfen.
Um 351 führten Aufstände gegen den römischen Statthalter Gallus zur Verwüstung zahlreicher jüdischer Siedlungen in Palästina. Der Lehrbetrieb in den rabbinischen Schulen (»Jeschiwot«) verlagerte sich nun in die jüdischen Zentren Babyloniens, wo das Christentum nicht Fuß gefasst hatte (vgl. Kap. 1, Die östliche Diaspora). Im Jahre 362 unternahm der christliche Kaiser Julian I. »Apostata« (361–363) einen Versuch, das Jerusalemer Heiligtum wieder aufzubauen, doch tat er dies nicht aus Zuneigung zum Judentum, sondern allein aus machtpolitischen Erwägungen. Der Bau verzögerte sich jedoch durch einen Brand oder ein Erdbeben und wurde bald nach Julians überraschendem Tod eingestellt. Nachdem Jerusalem Teil des oströmischen Reiches geworden war, setzte sich die judenfeindliche Haltung der Kaiser fort. Theodosius II. (401–450) verbot 417 und 423 Eheschließungen von Juden mit Nichtjuden und untersagte die jüdische Mission. Die Judengesetzgebung Justinians I. (527–565) bedeutete weitere gravierende Eingriffe in die Religionsausübung sowie in die bürgerlichen Rechte und Schutzrechte der Juden. Unter anderem erließ er Verbote hinsichtlich des Gebrauchs der hebräischen heiligen Schriften in den Synagogen.
Spätestens im 5. Jahrhundert gab es in Palästina mehr Christen als Juden. Folgt man den spätantiken christlichen Quellen, gewinnt man den Eindruck, dass im christlich-byzantinischen Jerusalem überhaupt keine Juden mehr lebten. Diese (theologisch begründete) Behauptung eines enormen Schrumpfens des jüdischen Bevölkerungsanteils entspricht jedoch nicht dem archäologischen Befund. Zwar zeigt die Mosaikkarte der Kirche von Madaba im Ostjordanland, die das byzantinische Jerusalem unter Justinian I. (527–565) darstellt, kein einziges jüdisches Bauwerk in der Stadt, die bereits 451 durch das Konzil von Chalcedon zum Bischofssitz erhoben worden war, aber das palästinische Judentum im 5. und 6. Jahrhundert blieb, obgleich in seiner Entfaltung eingeschränkt, in demographischer und wirtschaftlicher Hinsicht stabil.
Tempel und Tempelopfer
Für das Judentum in Palästina und in der gesamten antiken Welt war der Jerusalemer Tempel das verbindende Symbol der nationalen und religiösen Zusammengehörigkeit, selbst wenn man unter einer anderen Herrschaft loyal lebte. Die Angehörigen der 24 priesterlichen Dienstabteilungen (»Mischmarot«), denen man durch Familienzugehörigkeit angehörte, kamen aus ihren verschiedenen Wohnorten im ganzen Land in regelmäßigen Abständen zur Verrichtung ihres siebentägigen Opferdienstes nach Jerusalem.
Die individuellen Aspekte des Opfers, die in den älteren Schichten der biblischen Überlieferung begegnen, etwa in den Vätergeschichten des Buches Genesis, traten in hellenistisch-römischer Zeit in den Hintergrund. Der Aspekt der allgemeinen Sühnefunktion des Tempelopfers (vgl. Lev 17,11 u.ö.) war hingegen umso bedeutender geworden; das Streben nach Sühne und Sündenvergebung wurde zum eigentlichen Beweggrund und Zweck vieler Opferhandlungen. Beides wurde dem gesamten Volk Israel und jedem einzelnen Frommen durch die fortwährenden und korrekt vollzogenen Opfer im Jerusalemer Tempel immer wieder von neuem geschenkt. Von ebenso hoher Bedeutung wie die Sühnefunktion des zentralisierten Tempelopfers war auch der Gedanke, dass der Kosmos durch den Jerusalemer Tempel als Mikrokosmos repräsentiert wird und dass die ritualgerechte Opferkult- und Festpraxis unmittelbar mit der kosmischen Ordnung zusammenhängen. Der Opferkult im Tempel sollte das Geschehen in der Welt beeinflussen. War das Tempelopfer in Ordnung, war auch die Welt in Ordnung. Darum wurde es als von größter Bedeutung für das individuelle Schicksal wie auch für das Ergehen aller Menschen verstanden, sämtliche Bestandteile und Regeln der vorgeschriebenen Opfervorschriften genauestens zu beachten und richtig auszuführen; im Glauben nahezu aller Juden in hellenistisch-römischer Zeit war dies von grundlegender Bedeutung. Ein solches Verständnis des Opfergottesdienstes im Jerusalemer Tempel muss als allgemeines und verbindendes Kennzeichen antiker jüdischer Frömmigkeit angesehen werden. Juden