Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг

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Gesammelte Werke von Stefan Zweig - Стефан Цвейг

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Blut aus einer Wunde, die sich nicht schließen will. Verzagt schwieg der alte Mann, der versucht hatte, diesen Schmerz mit sanften Worten zu stillen. Die elementare Gewalt dieser Leidenschaft und ihre finstere Glut schienen ihm stärker, als alle Kraft der Begütigung. Er wartete und wartete. Manchmal schien der aufschäumende Strom zu stocken und die Erregung sich zu mildern, aber immer und immer stieß ein Schluchzen verlorene Worte empor, die halb Schrei und halb Weinen waren. Eine reiche und blühende Seele verblutete in diesem Schmerz.

      Endlich konnte er zu ihr sprechen. Aber Esther hörte ihn nicht. In ihren feuchten und starren Augen stand ein einziges Bild, und ein Gedanke erfüllte ihr Empfinden. Wie aus Fieberphantasieen stammelte sie fort. »Wie lieb es lachte… Mir gehörte es ja nur, mir ganz allein… Diese vielen schönen Tage… Ich war seine Mutter… Und ich soll es nicht mehr haben… Wenn ich es nur sehen könnte, nur noch einmal sehen… Nur sehen, nur einmal…« Und wieder verlosch die Stimme in hilfloses Schluchzen. Langsam war sie von der Brust des alten Mannes herabgesunken und umklammerte mit den matten, durchschauerten Händen nur noch seine Kniee, ganz zusammengekauert in die fließende Flut ihrer schwarzen Strähnen. Ihr zerknickter zuckender Körper mit dem überwallten und versteckten Antlitz schien wie zerschmettert von zornigem Schmerz. Und monoton, mit verlorenen erschlafften Gedanken lallte sie das Wort immer wieder. »Nur sehen… nur einmal sehen… nur einmal… nur sehen.«

      Tief beugte sich der alte Mann zu ihr herab.

      »Esther!«

      Sie rührte nicht ein Glied. Die Lippen lallten noch die Worte weiter ohne Sinn und Betonung. Er wollte sie emporheben; ihr Arm, den er faßte, war kraftlos und ohne Regung wie ein abgebrochner Ast; schlaff fiel er wieder zurück. Nur die Lippen stammelten eintönig und unbewußt ihren traurigen Spruch weiter. »Nur einmal… nur sehen… nur einmal sehen…«

      Da überkam ihn ein seltsamer Gedanke in seiner suchenden Ratlosigkeit. Er neigte sich zu ihrem Ohre. »Esther! Du sollst es sehen, einmal und so oft du willst!«

      Sie fuhr auf, wie aus einem Traum gerüttelt. Durch alle Glieder schienen diese Worte zu fließen, denn jähe Bewegung erfaßte ihren Körper, und sie richtete sich auf. Langsam schien die Klarheit wiederkehren zu wollen. Noch war ihr der Gedanke nicht ganz klar, denn instinktiv glaubte sie nicht an ein so großes Glück, das sich aus dem Schmerze wieder erschließen sollte. Unsicher sah sie den alten Mann an, wie mit schwankenden Sinnen. Sie begriff ihn nicht ganz und wartete auf seine Worte. Alles war ihr so unklar. Aber er sprach nicht, er sah sie nur mit gütiger Verheißung an und nickte ihr zu. Lind umfaßte er sie mit seinem Arm, als hätte er Angst, ihr wehe zu tun. Es war also kein Traum und nicht die Lüge eines Augenblicks. Ihr Herz schlug und schlug in wirrer Erwartung. Willig wie ein Kind ging sie an ihn gelehnt, ohne ein Ziel zu wissen. Aber er führte sie nur ein paar Schritte bis zur Staffelei. Und mit rascher Bewegung löste er das hüllende Tuch von dem Bilde.

      Im ersten Augenblicke blieb Esther reglos. Ihr Herz stand still wie erstarrt. Aber dann stürzte sie gierig auf das Bild zu, als wollte sie dieses liebe lächelnde rosige Kind aus dem Rahmen reißen, wieder zurück ins Leben, um es zu wiegen und zu umschmeicheln, um die Zartheit seiner unbeholfenen Glieder zu spüren und das Lachen um diesen kleinen törichten Mund zu erwecken. Sie dachte nicht, daß dies nur ein Bild war, ein Stück bemalter Wand, das nur der Traum des Lebens war, sie überlegte nicht, sondern fühlte nur, und ihre Blicke flatterten in seligem Rausche. Reglos blieb sie knapp vor dem Bilde stehen. Ein Zittern und Reißen war in ihren Fingern, die sich sehnten, die blühende Weiche dieses Kindes wieder erschauernd fühlen zu können, ein Brennen in ihren Lippen, den erträumten Körper mit zärtlichen Küssen bedecken zu können. Ein seliges Fieber durchlief ihren Leib. Und dann brachen die warmen Tränen empor. Aber sie waren nicht mehr zornig und anklagend, sondern wehmütig und beglückt, sie waren nur ein Quellen und Überquellen von vielen seltsamen Gefühlen, die plötzlich ihre Seele erfüllten und empordrängten. Leise löste sich der Krampf, der sie mit seinen harten Händen umklammert, und eine unsichere, aber milde und versöhnliche Stimmung hielt sie umschlungen und wiegte sie sanft und süß in einen wachen, wunderbaren Traum, der ferne war von allen Wirklichkeiten.

      Der alte Mann fühlte wieder jenes fragende Bangen in seiner Freude. Wie wundersam war dieses Werk, daß es selbst diejenigen, die es geschaffen und gelebt, so mystisch beseelte, wie unirdisch war diese sanfte Erhebung, die ihm entstrahlte! War dies nicht wie die Bilder und Zeichen der Heiligen, die man verehrte, und bei denen die Beladenen und Bedrückten jählings ihren Schmerz vergaßen und heimgingen, von einem Wunder geläutert und befreit? Und waren dies nicht heilige Flammen in den Blicken dieses Mädchens, das ihr eigenes Bild besah, ohne Neugierde und ohne Scham, sondern hingegeben und gottverloren? Er fühlte, es müsse ein Ziel geben, zu dem so sonderbare Wege führten, es müsse ein Wille da walten, der nicht blind sei, wie der seine, sondern hellsichtig und aller seiner Wünsche Meister. Und wie fromme Glocken jubelten diese Gedanken durch sein Herz, das sich erwählt dünkte für aller Himmel leuchtende Gnade.

      Vorsichtig nahm er Esther bei der Hand und führte sie weg vom Bilde. Er sprach nicht, denn auch er fühlte das warme Quellen von Tränen, die er nicht zeigen wollte. Ihm war, als ruhte auf ihrem Haupte noch ein warmer fließender Glanz, wie im Madonnenbilde, und als sei in dem Zimmer bei ihnen noch etwas Großes und Unsagbares, das mit unsichtbaren Schwingen vorüberrauschte. Er sah in Esthers Augen. Sie waren nicht mehr verweint und trotzig; nur ein sanfter spiegelnder Flor schien sie noch zu überschatten. Alles schien ihm heller, milder und verklärter ringsum. Wundernähe und Heiligkeit wollte sich ihm in allen Dingen offenbaren.

      Lange blieben sie noch beide zusammen. Sie begannen wieder zu sprechen, wie in alter Zeit, aber ruhiger und geklärter, wie zwei Menschen, die sich nicht mehr suchen müssen, sondern sich ganz verstehen. Esther war still geworden. Der Anblick dieses Bildes hatte sie seltsam berührt und sie so selig gemacht, weil er ihr das Glück ihrer schönsten Erinnerung wieder schenkte, weil sie ihr Kind wieder besaß, aber nun viel heiliger, viel tiefer und mütterlicher als in der Wirklichkeit. Denn nun war es nur ganz mehr Hülle ihres Traumes, ganz eigen und ganz ihre Seele. Nun konnte es niemand mehr nehmen. Dies Bild gehörte ihr allein, wenn sie es sah, und sie durfte es ja immer sehen. Gerne hatte der alte, von mystischen Ahnungen durchschauerte Mann ihr die zage Bitte verstattet. Nun hatte sie Tag für Tag gleiche Seligkeit und Lebensfülle, ihre Sehnsucht mußte nicht mehr bangen und begehren; und diese kleine blühende Gestalt, die den andern der Heiland der Welt war, war auch dem einsamen Judenkinde unbewußt ein Gott der Liebe und des Lebens.

      So kam sie noch einige Tage. Doch der Maler besann sich seines Auftrags, den er beinahe vergessen hatte. Der Kaufherr kam, das Bild zu betrachten, und auch ihn, der nichts von den heimlichen Wundern dieser Schöpfung wußte, überwältigte die milde Form der Muttergüte und die schlichte Weihe des ewigen Symboles in diesem Bilde. Begeistert drückte er seinem Freunde die Hand, der alle Lobsprüche mit bescheidener und frommer Gebärde zurückwies, als sei es nicht sein eigen Werk, vor dem er stand. Und sie beschlossen nicht länger dem Altare seinen Schmuck vorzuenthalten.

      Am folgenden Tage schon schmückte das Bild den andern Altarflügel, der verwaist gewesen. Und seltsam war nun dieses fremde Paar der beiden Madonnen mit ihrer leichten Ähnlichkeit und so verschiedener Gebärde. Wie zwei Schwestern schienen sie, von denen die eine noch der Süße des Lebens sich vertrauend hingibt, während die andere schon die dunkle Frucht des Schmerzes verkostet hat und die Schauer ferner Zeiten kennt. Aber über beider Haupt leuchtete ein gleicher Schein, als ob über ihnen Sterne der Liebe glühen würden, unter denen ihr Weg ein Leben lang ginge durch Freude und durch Schmerzlichkeit…

      Und auch in die Kirche folgte Esther dem Bilde, als sei es ihr eigen Kind, das sie hier finde. Langsam verrauschte die Erinnerung in ihr, daß ihr das Wesen fremd war, und ein Mutterglaube erwachte, der einen Traum zur Wahrheit werden ließ. Stundenlang lag sie hingestreckt vor dem Bilde, wie eine Gläubige vor des Heilands Bild. Um sie lebte ein andrer Glaube; die Glocken riefen mit ihren donnernden Zungen zu einer Andacht, die sie nicht kannte, Priester, deren Worte sie nicht verstand, sangen tiefe brausende Chöre, die

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