Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг
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So wurde auch er Esther ferner, denn sie schien ihm nur die Mittlerin des irdischen Wunders, das er vollbracht. Mit alter Güte behütete er sie, aber seine Seele erfüllte sich wieder mit den frommen Träumen, die er schon ferne geglaubt. Die schlichte Kraft des Lebens ward ihm mit einem Male so wunderbar. Wer konnte ihm Antwort geben? Die Bibel war alt und heilig, sein Herz aber irdisch und stand noch tief im Leben. Durfte er da fragen, ob die Schwingen Gottes hinabrauschten bis in diese Welt? Gingen noch heute Zeichen Gottes durch die Welt, oder waren es nur schlichte Wunder des Lebens?
Der alte Mann überhob sich nicht, da Antwort wissen zu wollen, so Seltsames auch in seinem Leben geschah. Aber er war seiner selbst nicht mehr so sicher wie einst, da er an das Leben glaubte und an Gott und nicht nachsann, wer die Wahrheit war. Und jeden Abend umhüllte er sorglich das Bild. Denn einmal in diesen Tagen, als er heimgekehrt war und der silberne Schein des Mondes segnend über dem Bilde hing, da war es ihm, als hätte die Gottesmutter ihm ihr Antlitz enthüllt. Und wenig fehlte, daß er sich betend hingeworfen hätte vor seinem eigenen Werk…
In diesen Tagen aber geschah noch ein anderes im Leben Esthers, das nichts Seltsames und Unwahrscheinliches war, aber doch wie ein aufwirbelnder Sturm bis in die Tiefen ihres Lebens hinabgriff, daß sie erschauerten in wildem und unverständlichem Schmerz. Sie fühlte die ersten Mysterien der Reife und ward Weib aus einem Kinde. Viel ratlose Verwirrung erfüllte ihre Seele, die niemand führte und unterwies, die einsam einen wundersamen Weg zwischen tiefen Dunkelheiten und mystischem Leuchten ging. Und viel Sehnsucht ward wach, die keinen Weg wußte. Ihr unbändiger Trotz, der früher allen Gespielen abweisend ausgewichen war und jedes unnötige Wort mit ihrer Umgebung vermieden hatte, brannte wie ein Fluch in diesen Tagen dunkler Verlorenheit. Denn so fühlte sie nicht die heimliche Süße, die in diesem Werden sich birgt, wie eine Saat, deren Fülle noch ferne ist, und nur der dumpfe, irre und so einsame Schmerz blieb zurück. Und in diese Unwissenheit glänzten die Legenden und Wunder, von denen der alte Mann ihr erzählt, wie verführerische Lichter, denen ihre Träume in die unsinnigsten Möglichkeiten gierig folgten. Die Erzählung von der milden Frau, deren Bild sie gesehen, die Mutter ward nach wundersamer Verkündigung, durchbebte sie mit einer jähen und fast freudigen Angst. Und doch wagte sie nicht zu glauben, denn noch von anderem war da gesprochen worden, das sie nicht verstand. Aber sie meinte, daß in ihr selbst irgend ein Wunder wirke, weil sie sich so verändert fühlte in ihrem ganzen Empfinden, weil die Welt und alle Menschen um sie mit einem Male anders zu sein schienen, tiefer, seltsamer und voll geheimer Triebe. Alle Dinge schienen zusammen zu gehören und ein inneres Leben zu haben, das sich entgegendrängte und wieder zurückstieß, eine Gemeinsamkeit, von der sie nicht wußte, wo sie sich berge; ihr schien alles zusammenzuhalten, was so vereinzelt stand. Und sie selbst fühlte diese innere Kraft, die sie hineinzog in das Leben und zu den Menschen, aber sie war unsinnig und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte und hinterließ nur diesen gleichen drängenden, pressenden und quälenden Schmerz unverbrauchter Sehnsucht und unterbundener Kraft.
Was Esther bisher unmöglich erschienen, versuchte sie jetzt in verzweifelten Stunden, wenn ihre Verlorenheit sich erkannte und die Sehnsucht nach einem Dinge, an das sie sich anklammern könnte, ihr Herz überwältigte. Sie sprach mit ihrem Ziehvater. Bisher war sie ihm ausgewichen, instinktiv, weil sie die Ferne fühlte, die zwischen ihnen war. Aber nun stieß sie dieser blinde Drang über die Schwelle. Sie sprach mit ihm von allen Dingen, erzählte ihm von dem Bilde, griff tief in sich hinein, um aus diesen Stunden etwas emporraffen zu können, was ihm von Wert sein könnte. Und der Wirt, sichtlich erfreut über diese Wandlung klopfte ihr derb begütigend auf die Wangen und hörte zu. Manchmal warf er ein Wort drein, aber es war so lässig und unpersönlich wie die Gebärde, mit der er den zerkauten Tabak zur Erde spuckte. Schließlich erzählte er selbst in seiner ungeschickten Weise, was gerade vorgegangen war, aber Esther horchte vergebens. Er wußte ihr nichts zu sagen, er versuchte es gar nicht. Alle Dinge schienen nur bis an seinen Körper heranzukommen und nichts nach innen zu fließen, eine Gleichgültigkeit gegen alles schlug ihr aus seinen Worten entgegen, die sie mit Ekel erfüllte. Was sie früher nur dumpf geahnt, wußte sie jetzt: es gab keinen Weg von solchen Menschen zu ihr und ihrer Seele. Es gab ein Nebeneinandersein, aber kein Erkennen, eine Öde und kein Verständnis. Und er schien ihr noch der beste von all den Menschen, die in dieser traurigen Kneipe aus und ein gingen, weil eine gewisse biedere Derbheit in ihm war, die in manchen Augenblicken sogar Herzlichkeit werden konnte.
Diese Enttäuschung aber konnte die drängende Kraft dieser unbändigen Sehnsucht nicht zerbrechen und die ganze Wucht strömte wieder zu den beiden Wesen zurück, die Aufgang und Niedergang ihres Tages umspannten. Sie zählte die einsamen Stunden der Nacht, die sie noch vom Morgen entfernten, mit Inbrunst und die Stunden des Tages, die vor ihrem Besuche bei dem Maler lagen, mit fiebernder Glut, die sich auf ihrem Antlitz verriet. Und einmal auf der Gasse warf sie sich ganz in den Arm ihrer Leidenschaft, wie ein Schwimmer in eine aufschäumende Flut, und stürmte wie verzweifelt durch die ruhig vorwärtsstrebenden Menschen, um erst Halt zu machen, wenn sie mit gerötetem Gesicht und verwirrten Haaren vor dem Tore des ersehnten Hauses stand. Eine Unbändigkeit und Lust an freier leidenschaftlicher Gebärde hatte in dieser Zeit der Umformung Gewalt über sie gewonnen und gab ihr eine wilde begehrliche Schönheit.
Und diese gierige, fast verzweiflungsvolle Art ihrer Zärtlichkeit ließ sie das Kind vor dem alten Manne bevorzugen, in dessen freundlicher inniger Milde etwas Ablehnendes, Abgeklärtes gegenüber aller stürmischen Leidenschaft lag. Er wußte nichts von der fraulichen Wandlung Esthers, aber er ahnte sie aus ihrem ganzen Wesen, dessen so jäh erwachte Ekstatik ihn befremdete. Ihr Schranken zu setzen, versuchte er nicht, weil er die elementare Kraft spürte, die sie vorwärts trieb in diese zähe Leidenschaft. Und er verlor darum nicht die väterliche Liebe zu diesem einsamen Kinde, wenngleich auch sein Sinn sich ganz wieder dem fernen Spiel der geheimen Lebenskräfte zugewandt hatte. Er freute sich ihrer Gegenwart und suchte sie sich zu bewahren. Das Bild war schon vollendet, er sagte es aber Esther nicht, weil er sie nicht trennen wollte von dem Kinde, das sie mit Zärtlichkeit gleichsam überflutete. Ab und zu tat er noch einen Pinselstrich, aber es waren immer nur unwichtige Äußerlichkeiten, ein Faltenwurf, eine leichte Schattierung des Hintergrundes oder eine flüchtige Nuance im Spiel des Lichtes. Dem eigentlichen Gedanken des Bildes und seiner innerlichen Empfindung wagte er nicht mehr zu nahen, denn der Zauber der Wirklichkeit war langsam gewichen und das Doppelantlitz des Bildes schien ihm das vergeistigte Wesen jenes wundervollen Schöpfertraumes, der ihm immer weniger Vollführung irdischer Kraft schien, je weiter zeitlich die Erinnerung jenes Augenblickes zu verdämmern begann. Jeder Versuch der Verbesserung schien ihm nicht nur Torheit, sondern Sünde. Und im Innersten beschloß er, nach diesem Werke, da seine Hand offenbarlich geleitet war, nicht weiteres Stümperwerk zu schaffen, sondern seine Tage in tieferer Frömmigkeit und in Erspähung der Pfade zu verbringen, die sein Leben emporführen könnten in jene Höhen, deren goldenes Abendleuchten er in diesen späten Lebensstunden noch verspürt hatte.
Esther spürte mit dem feinen Instinkte, den die Verwaisten und Zurückgestoßenen in ihren Seelen wie ein geheimes Netzwerk empfindsamer Fäden haben, das alle Worte und auch die verschwiegenen umspannt, die leichte Entfernung des alten und ihr so lieben Mannes, und sie litt beinahe unter seiner gleichen milden Zärtlichkeit; sie fühlte, daß sie gerade jetzt seines ganzen Wesens und der befreiten Fülle seiner Liebe bedurft hätte, um ihre Seele mit ihren wachsenden Schmerzlichkeiten offenbaren zu können und Antwort zu verlangen von den Rätseln, die sie umringten. Sie horchte auf den Augenblick, da sie die Worte aus sich befreien konnte, die in ihr drängten und überschäumten, aber das Erwarten ward endlos und machte sie müde. Und da wandte sie ihre ganze Zärtlichkeit dem Kinde zu. Ihr ganzes Empfinden formte sie in diesen kleinen unbeholfenen Körper, den sie mit heißer Gewalt umfing und küßte, so ungestüm und vergessend, daß das Kind oft nur den Schmerz der Umarmung spürte