Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг
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Dieses Kind umschloß nun für sie den Begriff des Lebens, nach dem sie sich so wild gesehnt. Rings um sie verwölkten sich die Zeiten, sie merkte es nicht. Abends standen die Bürger zusammen und sprachen von der alten Freiheit und dem guten König Karl, der sein Flandern so sehr geliebt, mit Bedauern und heimlichem Zorn. Unruhe wühlte in der Stadt. Die Protestanten einten sich insgeheim, lichtscheues Gesindel rottete sich zusammen, kleine Aufstände und Zusammenstöße mit den Soldaten häuften sich, getragen von drohenden Botschaften aus Spanien; und in diesem unruhigen Gezänke wetterleuchteten schon die ersten Flammen von Krieg und Rebellion. Die Vorsichtigen begannen schon jetzt ihren Blick gegen das Ausland zu richten, die andern trösteten und beruhigten sich, aber das ganze Land war mitgerissen in eine fröstelnde Erwartung, die sich in jedem einzelnen spiegelte. In der Schenke setzten sich die Männer in den Ecken zusammen und sprachen mit gedämpfter Stimme, und zwischen ihnen durch scherzte der Wirt in seiner derben Weise von Krieg und seinen Schrecknissen, doch das Lachen wollte allen nicht recht aus der Kehle. Die sorglose Fröhlichkeit der üppigen Menschen verlosch in Angst und unruhiger Erwartung.
Esther fühlte nichts von dieser Welt, nicht ihre gedämpfte und furchtsame Art und nicht ihr geheimes Fieber. Das Kind war still wie immer und lachte sie in seiner unbeholfenen Weise an, – so merkte sie keine Veränderung in ihrer Umgebung. Ihr Leben trieb einer einzigen Strömung nach in eine unselige Verwirrung; die Dunkelheit um sie ließ die phantastischen Träume ihrer leeren Stunden ihr als Wirklichkeit erscheinen, so ferne und fremd, daß sie für immer verloren war für die kühle besonnene Verständigkeit der Welt. Ihre erwachte Weiblichkeit schrie nach einem Kinde, aber dieses bange Mysterium wußte sie nicht, sondern sie erträumte es sich in tausend Formen, in der schlichten Wunderbarkeit der biblischen Legende, wie in der zauberischen Möglichkeit einsamer Phantasieen. Hätte ihr jemand dieses Rätsel des Alltags in einfachen Worten erklärt, so hätte sie vielleicht mit jenem verschämt betrachtenden Blicke wie sie Mädchen in dieser Zeit haben, die Männer gemustert, die an ihr vorbeigingen. So aber dachte sie ihrer nicht, sondern sah nur die Kinder auf den Straßen spielen und dachte träumerisch jenes seltsamen Wunders, das ihr vielleicht auch eines Tages ein solches rosiges spielendes Kind schenken könne, ein Kind, das ganz ihr gehörte und ganz ihre Seligkeit wäre. Und so unbändig war der Wunsch in ihr, daß sie sich vielleicht dem ersten besten hingegeben hätte, alle Scham und Ängstlichkeit vernichtend, nur um dieses ersehnten Glückes willen; aber sie wußte nichts von dieser schöpferischen Einung, und ihre Sehnsucht ging blinde und nutzlose Pfade in die Irre. Und so kehrte sie immer und immer wieder zu diesem fremden Kinde zurück, das ihr schon wie ein eigenes schien, so innig war ihre Zärtlichkeit geworden.
So kam sie eines Tages zu dem Maler, der mit geheimer Unruhe ihre übertriebene und fast krankhafte Leidenschaft zu dem Kinde bemerkt hatte, mit ihrem leuchtenden Gesicht und der funkelnden Unrast in den Augen. Das Kind war nicht, wie gewohnterweise, zur Stelle. Das beunruhigte sie, aber um es nicht einzugestehen, trat sie auf den alten Mann zu und fragte ihn nach dem Fortgang des Bildes. Das Blut stieg ihr in die Wangen bei dieser Frage, denn mit einem Male fühlte sie die stumme Beleidigung aller dieser Stunden, in denen sie nie Aufmerksamkeit weder ihm noch seinem Werke geschenkt. Die Vernachlässigung dieses so gütigen Menschen drückte sie wie eine Schuld. Aber er schien nichts zu bemerken.
»Es ist fertig, Esther«, sagte er mit einem leisen Lächeln, »und sogar schon lange. Nächster Tage werde ich es übergeben.«
Sie wurde blaß. Eine böse Ahnung befiel sie, die sie nicht auszudenken wagte. Ganz leise und verschüchtert fragte sie. »Und ich darf dann nicht mehr zu Euch kommen?«
Er streckte ihr beide Hände entgegen. Es war die alte milde bezwingende Gebärde, die sie immer wieder gefangen nahm. »So oft du willst, mein Kind. Und je öfter, desto lieber. Du siehst ja, daß ich hier einsam bin in meiner alten Stube und, wenn du da bist, dann ist es allein fröhlich und hell den ganzen Tag. Komm oft, recht oft, Esther.«
Ihre ganze alte Liebe zu diesem Manne flutete auf, wie wenn sie nun alle Dämme überrauschen wollte und sich in Worten ergießen. Wie groß und gut war er! War seine Seele nicht wahr und die des Kindes nur ihr eigener Traum? Ihr Vertrauen war wieder groß in diesem Augenblick, aber der Gedanke ihres Lebens hing noch lastend über dieser reifenden Saat wie eine Gewitterwolke. Der Gedanke an das Kind peinigte sie. Sie wollte diese Qual unterdrücken, sie preßte das Wort immer hinab und hinab, aber es quoll auf, ein wilder verzweifelter Schrei. »Und das Kind.«
Der alte Mann schwieg. Aber seine Züge wurden härter, beinahe unbarmherzig. Daß sie in diesem Augenblicke, da er ganz ihre Seele sein Eigen hoffte, seiner vergaß, das stieß ihn zurück wie ein zorniger Arm. Kalt und gleichgültig sagte er: »Das Kind ist fort.«
Er fühlte ihre Blicke gierig und in einer rasenden Verzweiflung an seinem Munde hangen. Aber die finstere Gewalt in ihm zwang ihn, trotzig und grausam zu sein. Er fügte nichts hinzu. In diesem Augenblicke haßte er dieses Mädchen, das so undankbar die viele Liebe vergaß, die sie von ihm empfangen, und der gütige und so milde Mensch empfand die Wollust einer Sekunde, sie zu quälen. Doch es war nur ein flüchtiger Moment der Schwäche und eigenen Verneinung, der wie eine einsame Welle in diesem unendlichen Meere der sanften Klärung verrann. Und, von dem Bangen ihres Blickes mit Mitleid erfüllt, wandte er sich ab.
Aber sie ertrug nicht dieses Schweigen. Mit wilder Gebärde stürzte sie an seine Brust und umklammerte ihn schluchzend und stöhnend. Nie brannte größere Qual in ihr, als in den verzweifelten Worten, die sie weinte und schrie. »Ich muß es wieder haben, das Kind, mein Kind. Ich kann nicht anders leben, es ist ja das einzige kleine Glück, das man mir stiehlt. Warum wollt Ihr mir es nehmen?… Ich war schlecht gegen Euch, aber verzeiht und laßt mir das Kind. Wo ist es? Sagt es mir! Sagt es mir! Ich muß es wieder haben…«
Ihre Worte verschlugen sich in ein tonloses Schluchzen. Tieferschüttert beugte sich der alte Mann über sie herab, die in langsam erschlaffendem Krampfe weinend seine Brust umklammerte und tiefer und tiefer herabsank wie eine ersterbende Blüte. Sanft strich er über dieses lange, dunkle, gelöste Haar. »Sei klug, Esther! Und weine nicht. Das Kind ist fort, aber…«
»Es ist nicht wahr, nein, es ist nicht wahr«, fuhr sie empor.
»Es ist wahr, Esther. Seine Mutter hat das Land verlassen. Die Zeiten sind schwer für die Fremden und die Ketzer, aber auch für die Fürchtigen und Treuen. Nach Frankreich sind sie oder nach England. Aber warum willst du verzagen… sei doch klug, Esther… warte ein paar Tage… es wird alles wieder gut werden…«
»Ich kann nicht, ich kann nicht«, röchelte ihr irres Weinen. »Warum hat man mir das Kind genommen… Ich hatte doch sonst nichts… ich muß es wieder haben… ich muß, ich muß… Es hatte mich gern, es war das einzige Wesen, das mir, das ganz zu mir gehörte… wie soll ich jetzt leben… Sagt mir doch, wo es ist, sagt mir…«
Klagen und Schluchzen flossen zusammen in ein wirres und verzweifeltes Reden, das immer leiser und sinnloser wurde und schließlich in ein stumpfes Weinen verquoll. Wie wirre Blitze zuckten die Gedanken durch dieses zermarterte Gehirn, das nicht Klarheit und Ruhe gewinnen konnte; alle Empfindung und Betrachtung schwang in wahnsinnig kreisender Drehung um diese eine schmerzhafte Idee, die nicht loszureißen war aus ihren Reden, sondern mitschwang und mitkreiste, rastlos mit unbarmherziger wirbelnder Kraft. Das