Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг
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Wieder hielt sie inne. Die Bilder schienen sich zu verlieren, langsamer dunkler zu werden.
»Ich hatte drei Schwestern… Sie waren sehr schön, und jeden Abend kamen sie an mein Bett und küßten mich… Und mein Vater war groß, ich reichte nicht hinauf zu ihm, und so trug er mich oft in seinen Armen… Und meine Mutter… Ich habe sie nie mehr gesehen… Ich weiß nicht, was mit ihnen ist, denn mein Großvater sah weg, wenn ich ihn fragte und schwieg… Und als er starb, wagte ich niemanden zu fragen…«
Und wieder hielt sie inne. Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle mit weher Gewalt. Ganz leise fügte sie bei:
»Jetzt weiß ich alles… Wie konnte das alles so dunkel sein für mich? Mir ist, als stände mein Vater neben mir und spräche das Wort, das er damals mir zur Antwort gesagt – so deutlich klingt es in meinen Ohren… Nun frage ich niemanden mehr…«
Ihre Worte wurden Schluchzen, stummes trostloses Weinen, das in ein tiefes trauriges Schweigen verklang. Das Leben, dessen helles Bild sie noch vor wenigen Minuten verführt, gähnte ihr nun wieder dumpf und dunkel entgegen. Und der alte Mann hatte längst Absicht und Ziel vergessen über der hingegebenen Betrachtung dieses Schmerzes. Stumm stand er vor ihr, und ihm war so weh, als müßte er sich zu ihr setzen, um mit ihr zu weinen, was er nicht in Worten sagen konnte: daß seine große Menschenliebe diesen Schmerz in ihr, den er unbewußt erweckt, fühlte als eine Schuld. Erschauernd spürte er die Fülle von Segen und lastender Schwere, die in einer Stunde sich die Hände reichten, und die schweren Wogen, die sich auf und nieder senkten, und von denen er nicht wußte, ob sie sein Leben erheben wollten oder in die drohenden Tiefen ziehen. Aber er fühlte sich matt und stumpf gegen Furcht wie Hoffnung; nur Mitleid für dieses junge Leben erfüllte ihn, vor dem noch so viel Wege und Ziele sich breiteten. Vergebens suchte er nach Worten: sie waren alle so schwer wie Blei und klangen wie falsches Metall. Was wog ihre Fülle gegen den Schmerz einer einzigen Erinnerung?
Traurig strich seine Hand über ihr zitterndes Haar. Sie schaute auf, verwirrt und zerfahren; mit mechanischer Gebärde ordnete sie sich ihre Haare und erhob sich mit umherirrenden Augen, als müßte sie sich wieder zurechtfinden in der Wirklichkeit. Schlaffer und müder wurden ihre Züge und nur in den Augen flackerte noch der dunkle Schein. Brüsk raffte sie sich zusammen und stieß die Worte rasch hervor, um zu verbergen, daß noch das Schluchzen in ihnen vibrierte. »Ich muß jetzt gehn. Es ist spät. Und mein Vater erwartet mich.«
Mit harter Gebärde schüttelte sie grüßend den Kopf, raffte ihre Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. Aber der alte Mann, der sie mit seinen sicheren verstehenden Blicken beobachtet hatte, rief sie noch einmal zurück. Mühsam wandte sie sich um, denn in den Augen leuchtete ein feuchter Schimmer von Tränen. Und wieder faßte der alte Mann mit seiner bezwingenden innigen Gebärde ihre beiden Hände und sah sie an. »Esther, ich weiß, du willst jetzt gehen und nicht mehr wiederkommen. Du glaubst mir und glaubst mir nicht, denn eine geheime Angst betrügt dich.«
Er fühlte, wie ihre Hände sich sanfter und vertrauender in den seinen lösten. Und er fuhr zuversichtlicher fort. »Komm aber wieder, Esther! Wir wollen alle Dinge ruhen lassen, die hellen und die traurigen. Morgen werden wir mit dem Bilde beginnen und mir ist, als wollte es gelingen. Und sei nicht traurig mehr, laß das Vergangene schlafen und rüttle nicht daran. Morgen wollen wir mit neuer Arbeit beginnen und mit neuer Hoffnung. Nicht wahr, Esther?«
Sie nickte unter Tränen. Und sie trug die Ungewißheit und Bangigkeit vor ihrem Leben wieder nach Hause zurück, wie vordem, nur mit dem Bewußtsein tieferer Fülle und vielfacheren Inhalts, als sie bisher gemeint.
Der alte Mann blieb in tiefem Sinnen zurück. Der Glaube an das Wunder war ihm nicht fremd geworden, aber das Wunder war ihm viel feierlicher und göttlicher erschienen, da es ihm nur ein Spiel des Lebens von göttlicher Hand dünkte. Und er entsagte dem Gedanken, Glauben an mystische Verheißungen in einem Antlitz aufleuchten zu lassen, dessen Seele vielleicht schon zu verzagt war, um noch zu glauben. Nicht mehr überheben wollte er sich und Mittler Gottes sein, sondern nur schlichter Diener, der ein Bild nach bestem Mühen schafft und es demütig am Altare niederlegt, sowie ein andrer eine Gabe. Er fühlte den Fehler, den Zeichen nachzugehen und sie zu suchen, statt zu warten, bis ihre Stunde käme und sie sich ihm offenbarten…
Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz. Warum hatte er Wunder wirken wollen an diesem Kinde, die ihm niemand geheißen? War es nicht genug Gnade, daß in sein Leben, das schon leer und kahl wurzelte wie ein alter Stamm, der nur noch mit den Ästen sehnsüchtig ins Blau aufgriff, ein andres junges Leben getreten war, das sich ängstlich und vertrauensvoll an ihn schmiegte? Ein Wunder des Lebens war ihm geschehen, das fühlte er; die Gnade war ihm geworden, die Liebe, die seine späten Tage noch überflammte, geben und lehren zu dürfen, sie einzusenken wie einen Samen, der noch wundersam entblühen kann. Hatte ihm das Leben nicht genug damit gegeben? Und hatte ihm nicht Gott den Weg gewiesen, auf welchem er ihm dienen sollte? Eine Gestalt hatte er seinem Bilde ersehnt und, sie war ihm begegnet; war dies nicht Gottes Wille, daß er sie zum Bildnis schüfe, und nicht, daß er ihre Seele einem Glauben zuführte, den sie vielleicht nie würde verstehen können? Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz.
Der Abend kam in sein Zimmer und die Dunkelheit. Der alte Mann stand auf; er fühlte eine Unrast und ein Bangen in sich, wie selten in seinen späten Tagen, die sonst so lind waren wie kühle klärende Herbstsonne. Langsam entzündete er das Licht. Dann ging er hin zum Schrank und suchte ein altes Buch. Sein Herz war aller Unrast müde. Er nahm die Bibel, küßte sie mit bebender Inbrunst; dann schlug er sie auf und las bis in die späte Nacht…
Das Bild wurde begonnen. Esther saß nachdenklich zurückgelehnt in einem weichen, wohligen Lehnstuhle und hörte bald den erzählenden Worten des alten Malers zu, der ihr mit allerhand Geschichten aus seinem und anderer Leben die eintönigen Stunden gleichmäßigen Sitzens zu vertreiben suchte, bald träumte sie gelassen in die tiefe Stube hinein, deren Wände mit Gobelins, Bildern und Zeichnungen geschmückt immer wieder ihren Blick anzogen. Die Arbeit ging nicht rasch vonstatten. Der Maler fühlte, daß alle diese Studien, die er machte, nur Versuche seien und noch nicht die endgültige überzeugende Stimmung. Es fehlte ihm noch etwas in dem Gedanken seiner Skizzen, das er in Worten und Begriffen sich nicht klären konnte, tiefinnerlich jedoch mit solcher Deutlichkeit empfand, daß ihn oft eine fieberhafte Eile von Blatt zu Blatt trieb, die er dann genau miteinander verglich, immer aber unzufrieden, so getreulich seine Schöpfungen auch sein mochten. Zu Esther sprach er nicht davon. Aber es war ihm, als läge in ihrem harten Zuge, der sich selbst in den Augenblicken sanfter Träumerei nie ganz von ihren Lippen ablöste, ein Widerspruch gegen die milde Erwartung, die seine Madonna verklären sollte, als sei noch zuviel kindhafter Trotz in ihr, der noch nicht reif sei, die süße Schwere des Muttergedankens zu tragen. Er fühlte, daß Worte ihr nicht recht die Düsterkeit würden abringen können, daß sich nur von innen diese Härte würde mildern können. Aber diese weiche, frauliche Regung blieb ihrem Antlitz fern, wenn auch die ersten Frühlingstage ihr rotes Sonnengold durch alle Fensterritzen ins Zimmer warfen und die schöpferische Regung einer ganzen Welt verkündeten, wenn alle Farben auch weicher und tiefer zu werden schienen so wie die Luft, die warm durch die Gassen wallte. Schließlich ermattete der Maler. Der alte Mann war erfahren und kannte die Grenzen seiner Kunst, deren Überschreitung er nicht erzwingen konnte. Er gab den Plan auf, so wie er ihn gefaßt hatte, rasch und der lauten Stimme einer plötzlichen Intuition gehorchend. Und nachdem er die Möglichkeiten gegeneinander abgewogen hatte, entschloß er sich, in Esther nicht den Gedanken der Verkündigung zu malen, da ihr Antlitz nicht die Schauer der ersten Zeichen der gläubig erwachenden Weiblichkeit trug, sondern sie als Madonna mit dem Kinde zu schaffen, dem schlichtesten und tiefsten Symbole seiner Gläubigkeit. Und er wollte sogleich damit beginnen, denn die Verzagtheit begann sich wieder in seiner Seele einzufinden, da der Glanz der erträumten Wunder mählich und mählich mehr verblaßt war, ja schon fast in die schwere, lastende Dunkelheit gesunken. Und ohne Esther zu verständigen, löste er die Leinwand, die einige flüchtige