Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin Singer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman - Kathrin Singer страница 42
Stefan Becker strich sich über die Stirn. »Es ist sehr schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren, aber nach seinem Tod erkennen zu müssen, dass er einen nicht so geliebt hat, wie man glaubte, ist kaum zu ertragen. Gerade Tote möchte man verklärt sehen, es soll kein Makel an ihnen sein. Ich muss mir sagen, dass Delila trotz unseres Kindes von mir fortstrebte. Sie hatte sogar vor, allein nach Hause zu fliegen, sobald die Eltern ihr das Reisegeld schickten. Das Kind hätte sie einfach bei mir zurückgelassen. Auch das stand in dem Brief. Und ich hatte mir die Füße nach einer schönen Wohnung wundgelaufen, das Aufgebot war bestellt, und ich war richtig glücklich, bald eine neue, sehr gute Stellung zu haben.«
Stefan Becker stand wieder auf. Diesmal ging er nicht ans Fenster. Er stellte sich nur hinter seinen Sessel und stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne. »Diese große Enttäuschung und der Schmerz um Delila, den ich trotz allem empfand, haben mich vollkommen verwirrt. Als ich von ihrer Beerdigung kam, packte ich unsere Sachen. Ich nahm nur eine Reisetasche mit und stieg mit dem Kind in den Zug ins Allgäu.«
»Haben Sie hier Bekannte?«, fragte Ingrid.
»Nein, ich habe hier niemanden. Ich wollte nur aus München heraus, wo mich alles an Delila erinnerte. Ich wollte fliehen. Ich muss von Sinnen gewesen sein. Noch nie war ich so durcheinander wie in jenen Stunden. Und dann tat ich das, was mich jetzt ins Gefängnis bringen wird.«
Ingrid sah ihn verständnislos an. Was hatte er getan? Er konnte keinen Menschen ermordet haben. Nein, das traute sie ihm nicht zu. Er war kein verbrecherisch veranlagter Mann, er war nur verzweifelt gewesen. Hatte er jemanden bestohlen? Auch das würde nicht zu ihm passen. Er musste doch nichts anderes im Sinn haben als die Frage, wie das Leben nun mit seinem Kind weitergehen sollte.
»Wie alt ist Ihr Kind?«, fragte Ingrid aus diesen Gedanken heraus.
»Ein halbes Jahr.« Stefan Becker richtete sich auf. »Sie kennen mein Kind.«
Ingrid zuckte zusammen. Redete er irr? Hatte das Fieber Macht über ihn gewonnen? Ging es ihm auf einmal wirklich so schlecht?
»Ja, Sie kennen mein Kind. Ich habe es ausgesetzt«, sagte Stefan Becker mit dumpfer Stimme.
Ingrid schluckte, dann flüsterte sie kaum verständlich: »Katrin? Unsere kleine Katrin? Sie ist ein halbes Jahr alt. Herr von Herwig hat sie aus dem Zug mitgebracht.« Ihre Stimme zitterte.
»Ja, Katrin ist meine Tochter.« Stefan Becker setzte sich wieder. Plötzlich legte er die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf darauf sinken. Er weinte.
Ingrid stand auf und legte die Hand auf Stefan Beckers Schulter. »Bitte, beruhigen Sie sich. Sie sind krank, nun dürfen Sie sich nicht noch so sehr aufregen.« Sie beugte sich tiefer zu ihm hinab. »Sie sind kein Verbrecher. Was Sie getan haben, war eine Kurzschlusshandlung.«
Stefan Becker hob den Kopf. »Ja, schon, trotzdem sucht mich die Polizei. Freilich unter dem Namen Heinz Schmidt, weil ich mich Herrn von Herwig so vorgestellt habe. Ich war wie besessen. Kein anderer Gedanke hatte in mir Platz als der, dass es Katrin bei diesem Mann und seiner Tochter gut haben würde. Ich hielt ihn für wohlhabend. Nach seinen Reden glaubte ich, er sei der Besitzer des Gutes Bodenwerder im Taunus. Ich meinte auch, dass seine Tochter dort lebte, denn er erzählte mir nichts vom Birkenhof.«
Ingrid ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder. »Ich kann mich sicher nicht ganz in Ihre Situation hineindenken, Herr Becker. Deshalb muss ich Sie fragen, was Sie sich dachten, als Sie sich von dem Kind trennten. Sie sind Katrins Vater, und sie hatte nun keine Mutter mehr. Sollte das Kind bei vollkommen fremden Menschen aufwachsen?«
»Ich hatte nicht allzu lange Zeit zum Überlegen. Es war so, wie ich vorhin schon sagte. Ich meinte, dass es Katrin überall besser als bei mir haben würde. Ich war dem kleinen Kind gegenüber hilflos, ich hätte es in ein Heim geben müssen. Wahrscheinlich habe ich gedacht, dass es dann besser ist, es kommt in eine gute Familie, irgendwo aufs Land, wo es frei aufwachsen kann!«
Stefan Becker legte beide Hände vor die Augen. »Ich habe eben doch verbrecherisch gehandelt. Es muss ein Charakterzug in mir sein, den ich selbst noch nicht kannte. Schon einige Stunden später wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Da saß ich in einem Gasthof, nicht weit von der Station entfernt, an der ich geflüchtet war, und hätte am liebsten alles rückgängig gemacht. Trotzdem brachte ich dann den Mut nicht auf, ich war wie gelähmt.«
»Später hörten Sie sicher, dass Sie gesucht wurden, aber auch, wie gut es Katrin getroffen hatte. Herr von Herwig wollte sie nie mehr hergeben, er hat schon bei der Polizei damals um das Kind gekämpft.«
»Ja, das habe ich gelesen. Es verwirrte mich vollends. Jetzt erst war ich vor die Alternative gestellt, mich zu meiner Tat zu bekennen, die Folgen auf mich zu nehmen und Katrin einem ungewissen Schicksal auszusetzen oder ihr den Platz zu gönnen, den sie gefunden hatte, an dem ihr Sicherheit und Geborgenheit bevorstand. Ich habe mich in dieser Zeit um keine Stelle mehr bemüht. Zu jener Firma in München, bei der ich schon einen Vertrag unterschrieben hatte, wagte ich mich nicht zurück. Ich trieb mich umher. Anfangs traute ich mich noch in Pensionen und Gasthöfe, bald wurde ich immer gehetzter. Je länger ich gewartet hatte, mich bei der Polizei zu melden und mich zu meinem Kind zu bekennen, umso größer wurde meine Schuld.«
»Und wie haben Sie erfahren, dass sich Katrin nun auf dem Birkenhof befindet, Herr Becker? Sie sagten doch vorhin, dass Herr von Herwig diesen nicht erwähnt hatte.«
»Ich bin in den Taunus gefahren. Herr von Herwig hatte mir ziemlich genau beschrieben, wo das Gut Bodenwerder liegt. Ich fand es auch leicht, aber erst dort erfuhr ich, dass Herr von Herwig nicht der Besitzer ist, verarmt und bei seiner Tochter sei. Merkwürdigerweise wurde sein Aufenthaltsort in den Zeitungsberichten nicht erwähnt. Nun, wie dem auch sei, ich war fest entschlossen, mir Katrin wieder zurückzuholen. Nun wusste ich, dass sie der einzige Mensch ist, der noch zu mir gehört und dass sich das Leben trotz allem für mich wieder lohnen würde, wenn ich für sie sorgen und sie aufziehen könnte, ganz gleich, welchen Schwierigkeiten ich anfangs gegenüberstehen würde.«
»Sie sind also in die Nähe des Birkenhofes gekommen, um Katrin zu holen?«
»Ja. Aber hier verging mir der Mut dazu immer von Neuem. Erst recht, als ich nun krank wurde. Seitdem denke ich oft, dass es besser wäre, wenn ich Schluss machte. In meinem Alter darf ein Mensch noch nicht so gescheitert sein, wie ich es bin.«
Ingrid schüttelte den Kopf. »Sie sind vielleicht nur zwei oder drei Jahre älter als ich, Herr Becker, aber der Gedanke ist mir noch nie gekommen, dass man sein Leben vorzeitig beenden sollte. Auch in den Stunden tiefster Depressionen nicht.«
»Sie sind eine Frau«, sagte Stefan Becker, als erkläre das alles.
»Was heißt das? Soll ich stärker als ein Mann sein, wenn ich doch zu dem schwachen Geschlecht gehöre, wie man so schön sagt?«
»Frauen sind im Schmerz meistens stärker als Männer. Außerdem können Sie sich um Ihr Kind kümmern. Den Vater zu verlieren, ist für ein Kind nicht so schlimm wie der Verlust der Mutter. Sie haben ein schönes Zuhause, selbst wenn Sie darum kämpfen müssen.«
»Woher wissen Sie, dass ich große Sorgen habe?«, fragte Ingrid erstaunt.
Jetzt lächelte Stefan Becker zum ersten Mal. »Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich mich lange mit dem alten