Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht
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Andere Wirtschaftsfürsten allerdings befürchten, dass die Fortführung von SPD-Grün (mangels Chance, sich wirtschafts- und sozialpolitisch rechts von dieser Regierung zu profilieren!) die Union aus purem Selbsterhaltungstrieb dazu bringen könnte, es »links« zu versuchen und Schröder mit der ein oder anderen sozialpopulistischen Attacke zu ärgern. Mit einer Fraktionsvorsitzenden Merkel dürfte dies leichter fallen als mit Merz, zumal die Union das Feld jetzt nahezu allein beackern kann. Denn die Strategie, die linke Opposition in der Umarmung zu zerquetschen und am Ende parlamentarisch zu entsorgen, ist ja vorerst leider aufgegangen. Was die Konzernchefs an einem Wildern der CDU auf Sozialterrain beunruhigt, ist nicht die Sorge, dass Merkels Mannen es ernst meinen könnten, sondern die Hemmschwellen, die solche Aktivitäten Schröder unvermeidlich auferlegen. Dass auf diese Weise »die starke Opposition nun Reformvorhaben der Sozialdemokraten« blockieren könnte, befürchtet etwa Rolf Elgeti von Commerzbank Securities in London. Und wen solche Ängste umtreiben, der ruft nach Großer Koalition.
Was des einen Angst, sollte freilich längst nicht automatisch des anderen Hoffnung sein. Wirkliche Hemmschwellen sind nur durch den Druck einer spürbaren gesellschaftlichen Widerstandsbewegung aufzubauen. Als deren Teil könnte die PDS verlorenes Vertrauen und verlorene Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. Das setzt allerdings nicht zuletzt voraus, soziale Verbrechen künftig wieder soziale Verbrechen und nicht »Gerechtigkeitsdefizite« zu nennen und Kriegstreibern à la Bush nicht länger so zu begegnen, als handele es sich bloß um Andersdenkende in Fragen Terrorbekämpfung.
28. September 2002
Umverteilung via Börse
Sie haben die »Der-Markt-hat-immer-recht«-Melodie gepfiffen, bis sie ihnen im Hals steckenblieb. Die hilflosen Kommentare der einst so selbstsicheren Leitartikler zum steilen Bergab von Kursen und Wirtschaft, der Anblick verzweifelter Börsenyuppies, deren smart-überlegenes Dauerlächeln von gestern grauen Sorgenfalten gewichen ist, all das mag bei manchem in einem unbeaufsichtigten Winkel seines Gemüts eine gewisse Genugtuung auslösen. Immerhin: Wenn, wie in Deutschland, ein Prozent der Haushalte siebzig Prozent des privat gehaltenen Aktienbestandes in ihren Depots versammeln, trifft der Börsencrash, scheint’s, in der Hauptsache doch nicht die Falschen. Von den 240 Mrd. Euro, die Bundesbürger in den Jahren 2000 und 2001 in diversen Anlageformen investierten, waren laut Zählung der Bundesbank Ende 2001 noch ganze 80 Milliarden übrig. Wer aber so üppig sparen konnte (und verlor), gehörte, möchte man meinen, mitnichten zu den Ärmsten.
Aber eben auch nicht zu den Reichsten, wie uns der jüngste World Wealth Report von Merrill Lynch belehrt. Das Finanzhaus untersucht darin die Vermögensentwicklung der sogenannten High Networth Individuals (HNWI), eine Spezies, von der es weltweit etwa 7,1 Millionen Exemplare gibt – davon in der Bundesrepublik rund 730 000 –, und die sich dadurch kenntlich macht, dass sie pro Kopf über ein liquides Vermögen von mehr als 1 Million US-Dollar verfügt. (Die Betonung liegt auf liquide; die Summe berechnet sich also abzüglich Betriebs-, Immobilien- und sonstigem festangelegten Vermögen.) HNWI sind Leute, vor denen jedes Bankhaus den roten Teppich ausrollt und für die sich jeder Vermögensverwalter in den Staub beziehungsweise mit Ehrgeiz ins Zeug legt.
Letzteres offensichtlich mit Erfolg. Denn während der DAX seit März 2000 von über 8000 auf unter 3000 Punkte schrumpfte und der Sturz des Dow Jones das Vermögen der US-Bürger um 5000 Milliarden Dollar dezimierte, erfreuten sich die HNWI bisher in jedem Jahr eines Zugewinns. Zwar fiel dieser 2001 mit 0,1 Prozent relativ bescheiden aus; aber auch das ist bei einem Gesamtvermögen allein der superreichen Europäer, das Merrill Lynch mit 8,4 Billionen US-Dollar beziffert, keine kleine Summe. Zumal in einem Marktumfeld, in dem der Kleinaktionär, der auf Anraten von Schröder und Krug vor zwei Jahren in die vermeintliche Volksaktie investierte, heute gerade noch ein Zehntel seiner Spargroschen besitzt; ganz zu schweigen von denen, die sich bei EM.TV oder Mobilcom versuchten.
Dem geprellten Kleinsparer wird nun gern erzählt, sein Vermögen sei infolge des Crashs »vernichtet« worden. Als die Deutsche Börse das 1997 geschaffene Segment Neuer Markt kürzlich ad acta legte, hieß es, in diesem seien seit Frühjahr 2000 insgesamt 211 Milliarden Euro »verbrannt« worden. Verbrannt – das klingt nach: weg und in Rauch aufgelöst. Genau das stimmt aber nur teilweise. Wirklich verschwunden ist nämlich nur Vermögen, das real nie existierte. Beispiel Telekom: Wer 1996 100 Telekomaktien aus der ersten Tranche zum Ausgabepreis von 28 DM kaufte, konnte sich vier Jahre später in dem wohligen Gefühl wiegen, dass aus 2800 DM über 20 000 DM geworden waren. Wer es beim Gefühl nicht beließ, sondern seine Aktien verkaufte, war tatsächlich siebenmal reicher geworden. Alle anderen dagegen mussten miterleben, wie das unverhofft Gewonnene wieder zerrann und am Ende kaum die Anfangssumme übrig blieb. Dieser virtuelle Reichtum, den die Aktionäre niemals eingezahlt hatten, sondern lediglich auf dem Gipfel des Booms ihr eigen glaubten, ist tatsächlich einfach verschwunden. Verschwunden ist aber keine einzige DM und kein einziger Euro, der je wirklich auf den Aktienmarkt getragen wurde. Wer sich etwa im Frühjahr 2000 von der geschürten Aktieneuphorie dazu hinreißen ließ, 20 000 DM zu investieren, zahlte damit genau jenen aus, der sich in weiser Voraussicht von seinen Aktien trennte. Dass letzterer um ein Vielfaches reicher werden konnte, dankt er ausschließlich dem, der ihm – in Hoffnung auf weitere Kursgewinne – seine Ersparnisse überließ. Selbst wer Telekom- oder sonstige Aktien unmittelbar bei der Emission erstand, hat keineswegs nur ins Unternehmen investiert. Eine halbe Milliarde verdienten allein die beteiligten Konsortialbanken am ersten Börsengang des Telefonriesen; am zweiten und dritten noch wesentlich mehr.
Der schöne Spruch »Geld verschwindet nicht, es wechselt nur den Besitzer« gilt auch auf den modernen Finanzmärkten. Noch bewegen sich Dax und Dow Jones weit über ihrem Stand Anfang der neunziger Jahre. Massiv verloren haben bis jetzt vor allem diejenigen, die sich im zurückliegenden Jahrfünft neu aufs Aktienparkett locken ließen, meist Verdiener im Mittelfeld und darunter. Nach einem Jahrzehnt rühriger Aktienwerbung und dank eines Rentensystems, das den Einzelnen, so er irgend kann, zu privater Vorsorge zwingt, besitzt in den USA heute jeder zweite Haushalt Aktien. Vor zehn Jahren waren es nicht annähernd so viele. In der Bundesrepublik ist die Anzahl der Leute, die Aktien oder Fondsanteile halten, von 5,6 Millionen 1997 auf 13,5 Millionen 2001 angestiegen. Die Zahl direkter Aktieninhaber hat sich mehr als vervierfacht. Die meisten von ihnen sind zu einer Zeit eingestiegen, als die Kurse ihre Spitzen erklommen und honorige Vermögensverwalter, die sich um das Klientel der HNWI kümmern, überteuerte Aktien speziell im Telekom-, Internet- und Medienbereich abzustoßen begannen. Schlecht beraten, mit blutiger Nase und geschrumpften Ersparnissen haben inzwischen zwei Millionen dieser Neueinsteiger dem Kapitalmarkt wieder den Rücken gekehrt. Die Börse vernichtet also nicht nur Vermögen, sie verteilt es vor allem auch um; in der Regel auf die dem Kapitalismus so nachhaltig eigene Weise: von unten nach oben. Dass trotz Kursverfall und Rezession Porsche in den ersten drei Quartalen dieses Jahres den Absatz ausgerechnet seines teuersten Modells um zwanzig Prozent steigern konnte, verblüfft daher nur auf den ersten Blick.
12. Oktober 2002
Gruselkatalog
Die Wirtschaftsverbände schäumen, Gewerkschafter brabbeln Lobendes, von einem »Todesstoß für die Aktienkultur« und »sozial gerechter Modernisierung« ist die Rede, – wollte man den neuen Koalitionsvertrag von SPD und Grünen anhand der Reaktionen bewerten, die er ausgelöst hat, käme man zu dem Schluss, es handele sich um ein ausgesprochen fortschrittliches Dokument. Tatsächlich beweist das Geschimpfe leider nur, dass öffentliche Verbände-Verlautbarungen längst zu Ritualen geworden sind, die bei jeder passenden oder eben auch unpassenden Gelegenheit gleichsam prophylaktisch abgespult werden, auf dass niemandem ernsthaft die Idee komme, Oberschicht und Konzernelite an den nach wie vor