Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Kapitalismus, was tun? - Sahra  Wagenknecht

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Prozent für das Gesamtjahr festgelegt. Angesichts der nahezu vollständigen Steuerbefreiung profitabler Großunternehmen, stagnierender bis sinkender Masseneinkommen, rückläufiger Beschäftigung und Pleiterekorden im Mittelstand sind die realen Zahlen allerdings nicht erstaunlich. Alle Schuldenlöcher gemeinsam ergeben laut EU-Berechnung in diesem Jahr ein deutsches Etatdefizit von 3,7 Prozent des BIP.

      Dass ausgerechnet die Bundesrepublik, die für Maastricht-Vertrag und Stabilitätspakt – drakonische Schuldenkriterien und die Zielvorgabe eines ausgeglichenen Haushalts bis 2004 eingeschlossen – an vorderster Front gekämpft hat, bereits im zweiten Jahr die hausgemachten Vorgaben verfehlt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Aber so sehr Maastricht nebst Folgeverträgen einem reaktionären Geist entsprang, so falsch wäre es, Schuldenmacherei gleich für fortschrittlich zu halten. Keynesianische Konjunktursteuerung, die inzwischen selbst in der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft ein zaghaftes Akzeptanz-Comeback erlebt (in der amerikanischen hatte sie immer ihren Platz) mag sympathischer sein als das Abwürgen jeder konjunkturellen Regung durch dumpfbackene Austeritätspolitik. Wahr ist aber auch: Staatliches deficit spending ist die profitkonformste Antwort auf das kapitalistische Nachfrageproblem: Es ist einer der wenigen Wege, Nachfrage zu schaffen, die im Prozess der Kapitalverwertung nicht zugleich als Kostenfaktor in Erscheinung tritt. Anders als aktive Lohnpolitik oder steuergelenkte Umverteilung von oben nach unten schmälert sie die Renditen nicht, sondern schafft, im Gegenteil, auf Steuerzahlers Kosten eine zusätzliche rentable Anlagesphäre für das private Kapital.

      Natürlich wären schuldenfinanzierte Sozialleistungen immer noch besser als gar keine. Wenn die Schulden allerdings in erster Linie daher stammen, Konzerne und Vermögende aus jeder Steuerpflicht zu entlassen – und wenn sie mit radikalem Sozialabbau einhergehen –, ist an solcher Politik kein Hauch mehr progressiv. Man sollte nicht vergessen: Auch Bush, der einen mehr als ausgeglichenen Haushalt übernommen hat und dank massiver Steuersenkungen für Wohlverdienende und forcierter Kriegs- und Rüstungspolitik heute tiefrote Zahlen schreibt, könnte sich mit Recht ein Keynes-Schüler nennen. Dessen Lehren sind daher, selbst wenn die Politik ihnen folgt, längst kein Ersatz für reale Verteilungskämpfe.

      9. November 2002

      Kommissionsunwesen

      »Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis …« Aus diesem schönen Spruch, in der Regel auf Situationen ehrlicher Hilflosigkeit angewandt, hat Schröder eine Strategie gemacht. Sie soll eines seiner Grundprobleme lösen, das da lautet: Wie nutze ich die parteinahen Milieus als Ausführungsorgane meiner Politik, ohne Gefahr zu laufen, ihnen als Gegenleistung irgendeine Form inhaltlicher Mitsprache zugestehen zu müssen?

      Auch wenn es öffentlich nur selten auffällt: Es gibt natürlich in der SPD noch das ein oder andere Mitglied, dessen Parteibuch nicht daher rührt, dass eine CDU-Ortsgruppe gerade nicht verfügbar war oder man just mit deren Ortsvorsitzenden eine der beliebten Nachbarschaftsfehden ausfocht. Es gibt die Alten, die früher noch viel von Freund und Feind, von Kapitalismus und Solidarität gelernt und bis heute nicht vergessen haben. Es gibt die unzähligen engagierten Gewerkschaftsfunktionäre, von denen zumindest die auf unterer und mittlerer Ebene Tätigen die Folgen der Schröder-Politik tagtäglich hart zu spüren bekommen; und auch die in der persönlichen Karriereplanung Strebsameren in den höheren Rängen wissen zumindest eines: dass alle paar Jahre der Tag kommt, an dem sie wiedergewählt werden müssen. Und es gibt offenbar bis in höchste SPD-Gremien hinein Leute, die nicht begreifen wollen, weshalb die Konzernchefs aus Schröders Rotwein-Runde SPD-Gesetzesvorschläge inzwischen so unmittelbar diktieren, dass selbst Frau Merkel kein anderes Gegenargument mehr einfällt als auf »gebrochene Wahlversprechen« und »soziale Schieflagen« zu verweisen.

      Schröder kann diese Milieus nicht frontal brüskieren, da die Durchsetzungskraft seiner Politik – und damit seine Überlegenheit gegenüber der CDU in den Augen von Hundt & Co – gerade darauf beruht, dass sie seinen Kurs, mit dem für Akzeptanz nötigen Stallgeruch versehen, nach unten übermitteln. Aber Schröder muss zugleich darauf achten, dass sie seine Vorhaben nicht durch Transmissionsversuche in umgekehrter Richtung stören.

      Zur Beseitigung dieses Störfaktors hat er ein Rezept entwickelt, das seinem Ahnen Brüning – bei aller sonstigen Ähnlichkeit – mangels moderner Medien noch nicht zur Verfügung stand. Es besteht in folgendem Dreischritt: 1. Suche einen Sachverständigen, der vor allem von einer Sache – den Interessen und Wünschen der Konzernlobby – etwas verstehen muss und setzte dem zuständigen SPD-Minister eine Kommission vor die Nase, die dieser Fachlobbyist leitet; 2. beauftrage ihn, ein Exzerpt aus BDI-Papieren und der persönlichen Wunschliste honoriger Dax-Vorstände anzufertigen, lass ihn drei, vier spezielle Grausamkeiten hinzufügen, die nach allgemeiner Aufregung wieder zurückgenommen werden können; 3. sorge dafür, dass die Medien die Vorschläge als Ausdruck höchster Kompetenz, als kreativ und unsagbar neu abfeiern, und organisiere dadurch einen Druck, der die Umsetzung zu einer Frage des öffentlichen Ansehens der Partei und des Kanzlers höchstpersönlich macht: Wir können dahinter nicht zurück, Genossen, das müsst Ihr doch einsehen!

      Dieses Rezept hatte seine erste Bewährungsprobe, als Riester nach Abschuss der gesetzlichen Rente keine Neigung zeigte, auch noch als Wegbereiter eines amerikanisierten Arbeitsmarktes in die Geschichte einzugehen. Der Sachverständige hieß damals Hartz, und das vielbelobte Ergebnis ist eine Arbeitsmarktreform, die Hire-and-Fire bei Niedrigstlöhnen auch hierzulande zum Alltag machen wird. Der nächste Delinquent, den es mundtot zu machen gilt, heißt Ulla Schmidt. Auch Frau Schmidt gehört zweifelsfrei nicht zur Parteilinken. Aber immerhin hat sie eine Absage an Zwei-Klassen-Medizin sowie das Wörtchen Solidarität gleich mehrfach in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben und, was schwerer wiegt, sie neigt dazu, die Pharmabranche von Zeit zu Zeit mit profitschädigenden Einfällen wie der Positivliste oder Preisabschlägen zu verstören. Auch ihre Idee, künftig Selbständige wie Beamte für die gesetzliche Rente löhnen zu lassen und womöglich alle Einkommensarten zur Berechnung heranzuziehen, kam nicht gut an.

      Spätestens an diesem Punkt war die Gründung einer neuen Kommission überfällig. Offiziell hat sie unter anderem den Auftrag, zu prüfen, ob die soziale Sicherung durch eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis im genannten Sinn verbessert werden könnte. Aber Bert Rürup, der von Schröder bestellte Vorsitzende, wäre nicht der Wirtschaftsweise, der er sich nennen darf, würde er sich mit derlei abartigen Fragestellungen befassen. Schmidts Ideen führten nur zu einer »Ausdehnung der demographieanfälligen Umlagefinanzierung«, beschied er knapp und erläuterte anschließend das von ihm präferierte Modell: Die Krankheitskosten sollten von den Löhnen abgekoppelt werden, und jeder Versicherte soll künftig eine einheitliche Kopfprämie von 200 Euro zahlen. Die »Arbeitgeber« seien von der Zumutung, die Krankenversicherung ihrer Angestellten mitfinanzieren zu müssen, ganz zu befreien. Tusch bei den Verbänden!

      Man muss keine hohe Mathematik betreiben, um zu wissen: Von 200 Euro pro Frau bzw. Mann lässt sich ein einigermaßen zureichendes Niveau gesundheitlicher Versorgung nicht finanzieren. Auch bei den privaten Versicherern liegt der Schnitt – durch alle Altersgruppen – deutlich höher. Und denen steht immerhin frei, was die gesetzlichen Kassen wohl auch nach dem Geschmack des Herrn Rürup nicht dürfen sollten: potentiell teure, weil nicht kerngesunde Leute erst gar nicht aufzunehmen. Wie sich der Rürupsche Amoklauf gegen das Solidarsystem mit Wahlversprechen und Koalitionsvertrag vereinbaren lässt? Frau Schmidt hüllt sich in Schweigen und überlässt den Kommentar einer Sprecherin des Sozialministeriums: »Wir haben große Hochachtung vor der Kompetenz des Herrn Rürup.« Punkt. Aus.

      23. November 2002

      Rentenklau

      »Es geht nicht um den Prozentwert eines aus dem fernen Dunst des Jahres 2030 herausscheinenden Rentenniveaus, es geht um einen tiefen Schnitt in das gewohnte Paradigma der Sozialpolitik …«, höhnte die FAZ im Herbst 2000, als Riester sich gerade anschickte, die Gewerkschaften mit dem Versprechen eines Rentenniveaus von 67 Prozent zu ködern und diese – Schröder-treu, wie sie

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