Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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»Die Infanterie abwarten!« rief er, während er Petja entgegenritt.
»Warten? … Hurra!… rief Petja, und ohne einen Augenblick zu zögern, galoppierte er auf die Stelle zu, woher die Schüsse gehört wurden und wo der Pulverdampf am dichtesten war.
Eine Salve ertönte, man hörte, wie die Kugeln pfiffen und anschlugen. Die Kosaken und Dolochow ritten im Galopp Petja nach an die Pforte des Hofes. In dem dichten Pulverrauch warfen die Franzosen die Gewehre weg und liefen den Kosaken entgegen, andere flohen den Berg hinab, dem Teich zu. Petja ritt an dem Gehöft entlang, und anstatt die Zügel einzuhalten, trieb er sein Pferd an und ritt immer weiter in derselben Richtung. Das Pferd stolperte, und Petja fiel schwer herab auf die feuchte Erde. Die Kosaken sahen, wie seine Arme und Beine zitterten und zuckten, obgleich sein Kopf sich nicht rührte. Eine Kugel hatte ihn in den Kopf getroffen.
Ein französischer Offizier kam aus einem Hause heraus, mit einem Tuch am Degen, und erklärte, sie wollen sich ergeben. Nachdem Dolochow mit ihm gesprochen hatte, stieg er vom Pferde und ging auf Petja zu, der unbeweglich, mit ausgestreckten Armen auf der Erde lag.
»Fertig!« sagte er mit finsterer Miene und ging Denissow entgegen.
»Ist er tot?« rief Denissow.
»Fertig!« wiederholte Dolochow, als ob dieses Wort ihm besonderes Vergnügen machte. Dann ging er rasch zu den Gefangenen, welche die Kosaken eilig umzingelten. Denissow ritt zu Petja, stieg vom Pferde und wandte mit zitternden Händen das mit Blut und Schlamm bedeckte, bleiche Gesicht Petjas um. Verwundert über die Laute, welche wie Hundegebell klangen, mit denen sich Denissow rasch abwandte und sich am Zaum festhielt, blickten sich die Kosaken nach ihm um. Unter den befreiten russischen Gefangenen befand sich auch Peter Besuchow.
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Über die Gefangenen, unter welchen sich Peter befand, war von französischer Seite keine neue Verfügung mehr getroffen worden. Am 22. Oktober waren sie nicht mehr von denselben Truppen und Wagen begleitet, mit welchen sie aus Moskau ausmarschiert waren. Die Hälfte der Wagen mit Zwiebäcken, die mit ihnen fuhren, waren von den Kosaken abgeschnitten worden, die andere Hälfte fuhr weiter. Die Kavalleristen, die zu Fuß vorangingen, waren alle verschwunden, die Artillerie, die während der ersten Tagesmärsche an der Spitze des Zuges zu sehen war, war jetzt von den großen Wagenzügen des Marschalls Junot ersetzt. Hinter den Gefangenen fuhren Wagen mit Ausrüstungsgegenständen für die Kavallerie.
Von Wjäsma an marschierten die französischen Truppen, anstatt wie früher in drei Kolonnen, nur noch in einem einzigen Haufen. Jene Anzeichen von Unordnung, welche Peter auf dem ersten Rastplatz von Moskau her bemerkt hatte, erreichten jetzt den höchsten Grad. Längs des Wegs zu beiden Seiten lagen tote Tiere, abgerissene, ermüdete Leute von verschiedenen Korps vermischten sich fortwährend und blieben zum Teil hier zurück. Mehrmals war falscher Alarm entstanden, die Soldaten schossen und liefen durcheinander, ordneten sich aber wieder unter gegenseitigen Schimpfworten. Die drei Abteilungen, die zugleich marschierten, das Kavalleriedepot, die Gefangenen und der Wagenzug Junots, bildeten noch besondere Gruppen, welche aber rasch schmolzen. Von den hundertundzwanzig Wagen waren nur noch die vordersten übrig, von Junots Wagen gingen auch einige Fuhren verloren. Drei Wagen wurden von ermüdeten Soldaten geplündert, und Peter hörte, daß ein Soldat auf Befehl des Marschalls erschossen wurde, weil man bei ihm einen silbernen Löffel gefunden hatte, der dem Marschall gehörte. Von den dreihundertunddreißig russischen Gefangenen, die aus Moskau ausmarschiert waren, blieben weniger als hundert übrig, sie waren den Truppen am meisten lästig. Daß man Sättel und Junots Löffel bewachte, das war ihnen begreiflich, aber warum die hungrigen und erfrorenen Soldaten auf Wache stehen sollten, um hungrige und erfrorene Russen zu hüten, welche am Wege liegenblieben, obgleich befohlen wurde, sie zu erschießen, das war den Soldaten unbegreiflich und widerlich, und deswegen benahmen sie sich besonders finster und feindselig gegen die Gefangenen. Der Befehl, daß die gefangenen Offiziere vorausmarschieren sollten, war längst vergessen. Karatajew wurde am dritten Marschtag vom Fieber befallen, und je schwächer er wurde, desto mehr entfernte sich Peter von ihm. In der Gefangenschaft hatte Peter mit seinem ganzen Wesen erkannt, daß der Mensch zum Glück geschaffen sei, daß das Glück in ihm selbst liege und in der Befriedigung der natürlichen menschlichen Bedürfnisse, und daß alles Unglück nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß herkommt. Jetzt aber in den letzten drei Wochen hatte er eine neue tröstliche Wahrheit entdeckt. – Er erkannte, daß es auf der Welt nichts Schlechtes gebe, er erkannte, daß, ebenso wie es keine Lage auf der Welt gibt, in welcher der Mensch vollkommen glücklich und frei ist, es auch keine Lage gäbe, in der er gänzlich unglücklich und unfrei wäre, er erkannte, daß es eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit gebe, und daß diese Grenzen einander sehr nahe seien. Er erkannte, daß er damals, als er aus freiem Willen, wie er glaubte, seine Frau heiratete, nicht freier war als jetzt, wo man ihn über Nacht in einen Pferdestall einsperrte. Das Schlimmste, was später auch er Leiden nannte, was er aber damals kaum fühlte, waren seine bloßen, zerrissenen Füße. Das Pferdefleisch war schmackhaft und nahrhaft, bei Tage war es warm und abends wärmte man sich am Feuer. Am zweiten Marschtag, als er seine schmerzenden Füße betrachtete, glaubte Peter, es sei unmöglich, auf ihnen weiterzugehen, aber als alle sich erhoben, hinkte er auch weiter, und als er warm geworden war, verschwand der Schmerz, obgleich seine Füße abends noch schrecklicher aussahen. Aber er sah sie nicht an und dachte an etwas anderes.
Er sah und hörte nicht, wie man die liegenbleibenden Gefangenen erschoß, obgleich schon mehr als hundert auf diese Weise ums Leben gekommen waren, er dachte nicht an Karatajew, der mit jedem Tag schwächer wurde und augenscheinlich rasch demselben Schicksal entgegenging, und noch weniger dachte er an sich selbst.
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»Achtung!« schrie plötzlich eine Stimme. Unter den Gefangenen und Soldaten entstand eine freudige Bewegung und Erwartung, von allen Seiten hörte man Kommandorufe und von links her erschienen gut gekleidete Reiter auf wohlgenährten Pferden. Auf allen Gesichtern erschien der Ausdruck der Spannung, wie gewöhnlich beim Erscheinen hoher Vorgesetzter. Die Gefangenen sammelten sich in einer Gruppe, sie wurden vom Wege abgedrängt und die Wachtmannschaft stellte sich auf.
»Der Kaiser! Der Marschall! Der Herzog!« hieß es, und sogleich ritt eine Abteilung Kavallerie vorüber, und darauf folgte ein Wagen mit grauen Pferden. Peter erblickte flüchtig das ruhige, schöne, dicke und weiße Gesicht eines Mannes mit dreieckigem Hut, das war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls fiel auf die mächtige Figur Peters, und dieser glaubte in ihm Mitleid zu lesen, zugleich aber auch das Bestreben, es zu verbergen.
Der General, der den Wagenzug führte, galoppierte auf seinem hageren Pferd mit rotem, erschrockenem Gesicht dem Wagen nach, einige Offiziere sammelten sich in einer Gruppe, und die Soldaten umgaben sie. Alle Mienen waren erregt und gespannt.
»Was hat er gesagt?« hörte Peter. Als der Marschall vorüber war, erblickte Peter Karatajew, den er heute noch nicht gesehen hatte. Er sah Peter mit seinen guten runden Augen an und schien ihn zu sich zu rufen, um ihm etwas zu sagen, aber Peter tat, als ob er ihn nicht gesehen hätte, und ging rasch weiter. Als die Gefangenen sich wieder in Bewegung setzten, blickte sich Peter um. Karatajew saß am Rande des Weges unter einer Birke, und zwei Franzosen sprachen mit ihm. Peter sah sich nicht mehr um und ging hinkend den Berg hinan.
Von der Stelle, wo Karatajew saß,