Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi

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Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi

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begonnen hatte, wieviel Tagemärsche bis Smolensk noch übrigbleiben, und begann wieder zu zählen. Zwei Franzosen, von denen einer ein rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an ihm vorüber, beide waren bleich, Peter sah auf ihren Gesichtern denselben Ausdruck wie bei dem jungen Soldaten bei der Hinrichtung in Moskau. Dann erinnerte er sich, daß dieser Soldat vor zwei Tagen sein Hemd, das er am Feuer trocknen wollte, verbrannt hatte und dafür ausgelacht worden war. Das Hündchen, das sich immer Karatajew angeschlossen hatte, heulte und blieb an der Stelle, wo Karatajew gesessen hatte.

      »Warum heult das dumme Tier?« dachte Peter.

      Die Soldaten und Genossen, die neben Peter gingen, blickten sich auch nicht um nach der Stelle, woher der Schuß kam und wo das Hündchen heulte, aber ein finsterer Ausdruck lag auf allen Gesichtern.

      241

       Inhaltsverzeichnis

      Der Wagenzug und die Gefangenen hielten im Dorfe Schamschewo. Alle drängten sich an die Lagerfeuer. Peter aß gebratenes Pferdefleisch, wandte den Rücken dem Feuer zu und versank sogleich in tiefen Schlaf.

      »Geh zum Teufel!« schrie eine Stimme, und Peter erwachte. Er richtete sich auf. Beim Feuer hockte ein Franzose, der eben einen russischen Soldaten weggestoßen hatte, und briet ein Stück Fleisch, während sein braunes, finsteres Gesicht hell vom Feuer beleuchtet wurde. Peter wandte sich ab und blickte in die Finsternis. Der Gefangene, den der Franzose weggestoßen hatte, saß nahe dabei und klopfte etwas mit der Hand. Peter erkannte das kleine Hündchen, das mit dem Schweif wedelte und neben dem Soldaten saß.

      »Eh, bist du da?« sagte Peter, »und Karat…« begann er, unterbrach sich aber. Plötzlich erinnerte er sich an den letzten Blick, mit dem ihn Karatajew angesehen hatte, an den Schuß, an das Geheul des Hündchens, an die schuldbewußten Gesichter der beiden Franzosen, die mit dem rauchenden Gewehr bei ihm vorübergelaufen waren, und daran, daß Karatajew an diesem Rastplatz fehlte. Er war schon ganz nahe daran, zu begreifen, daß Karatajew erschossen worden war, aber in demselben Augenblick erwachte ganz unerwartet in ihm die Erinnerung an einen Sommerabend, den er mit einer polnischen Schönheit auf dem Balkon seines Hauses in Kiew zugebracht hatte.

      Vor Sonnenaufgang wurde er durch heftiges Schießen und Geschrei geweckt. Franzosen liefen an ihm vorüber.

      »Die Kosaken!« schrie einer von ihnen, und nach wenigen Augenblicken war Peter von russischen Gesichtern umgeben. Lange konnte er nicht begreifen, was vorgegangen war, von allen Seiten hörte er laute Freudenrufe seiner Genossen, welche die Kosaken und Husaren umarmten. Diese umgaben die Gefangenen und reichten ihnen Kleidungsstücke, Stiefel und Brot. Peter weinte und konnte kein Wort hervorbringen, er umarmte den ersten Soldaten, der auf ihn zukam, und küßte ihn.

      Dolochow stand an der Pforte eines zerstörten Hauses, während die Menge der entwaffneten Franzosen laut sprechend an ihm vorüberging. Als sie aber an Dolochow vorbeigingen, der mit seiner Reitgerte die Stiefel klopfte und mit seinem kalten, nichts Gutes verheißenden Blick sie ansah, verstummten sie. Auf der anderen Seite stand der Kosak Dolochows und zählte die Gefangenen.

      »Wieviel?« fragte Dolochow den Kosaken.

      »Im zweiten Hundert!« erwiderte der Kosak.

      »Weiter! Weiter!« rief er den Franzosen zu, und seine Augen funkelten und glühten in zornigem Glanz.

      Denissow ging mit düsterer Miene neben den Kosaken her, welche die Leiche von Petja Rostow nach einer im Garten gegrabenen Grube trugen.

      242

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn der Mensch ein sterbendes Tier sieht, erfaßt ihn Entsetzen, aber wenn der Sterbende ein Mensch ist, und ein geliebter Mensch, dann fühlt man außer dem Entsetzen über die Vernichtung des Lebens auch eine innere Wunde, die wie eine physische Wunde zuweilen tötet, zuweilen heilt, aber immer schmerzt.

      Nach dem Tode des Fürsten Andree empfanden dies Natalie und die Fürstin Marie und schützten vorsichtig diese Wunde vor schmerzlichen Berührungen. Alles, die rasch vorüberfahrenden Equipagen; die Fragen der Mädchen nach den Kleidern, die angefertigt werden sollten, und noch mehr die Worte heuchlerischer Teilnahme, alles erregte aufs neue den brennenden Schmerz.

      Nur wenn sie alle beisammen waren, fühlten sie Erleichterung. Sie sprachen wenig und nur von unbedeutenden Gegenständen und vermieden alles, was sich auf die Zukunft bezog. Es erschien ihnen wie eine Beleidigung seines Andenkens, die Möglichkeit einer Zukunft anzuerkennen, und noch sorgfältiger vermieden sie in ihren Gesprächen alles, was auf den Verstorbenen Bezug hatte.

      Aber der reine und vollkommene Kummer ist ebenso unmöglich wie reine und vollkommene Freude. Marie, die unabhängige Herrin ihres Schicksals und Erzieherin ihres Neffen, wurde zuerst aus dieser Welt des Kummers zum Leben zurückgerufen. Sie erhielt Briefe, die sie beantworten mußte; das Zimmer Nikolais war feucht, und er begann zu husten. Alpatitsch kam in Jaroslaw an mit Abrechnungen und Vorschlägen zum Umzuge nach Moskau, wo ihr Haus unverletzt geblieben war und nur kleiner Ausbesserungen bedurfte. Das Leben bleibt nicht stehen, man muß weiterleben, und so schwer es auch Marie fiel, aus dieser einsamen geistigen Welt herauszutreten und Natalie allein zu lassen – so wurde sie doch von den Sorgen des Lebens in Anspruch genommen. Sie schlug der Gräfin vor, Natalie mit ihr nach Moskau ziehen zu lassen, und die Eltern stimmten diesem Vorschlag freudig bei, da sie von den Moskauer Ärzten Hilfe für Natalie erhofften.

      »Ich werde nirgends hinreisen«, erwiderte Natalie, als man ihr diesen Vorschlag machte, »laßt mich nur allein!« Sie lief aus dem Zimmer und verbarg mit Mühe die Tränen, die weniger von Kummer als von Verdruß und Reizbarkeit hervorgerufen worden waren. Als sie sich von Marie verlassen sah, saß Natalie meist einsam auf ihrem Zimmer, legte die Füße in die Ecke eines Diwans und blickte starr vor sich hin. Diese Einsamkeit war ihr peinlich, aber dennoch notwendig. Eines Morgens, als sie so ihrem Kummer nachhing, trat Dunjascha mit erschrecktem Gesicht ins Zimmer. »Bitte, kommen Sie zum gnädigen Herrn! Schnell!« rief sie keuchend. »Von Peter Ilitsch ein Brief!… Ein Unglück …«

      243

       Inhaltsverzeichnis

      Natalie fühlte sich während dieser Zeit auch den Gliedern der Familie entfremdet und begriff nicht, was Dunjascha von Unglück sprach.

      »Was können sie für Unglück haben? Sie leben, wie gewöhnlich, ruhig weiter«, dachte Natalie.

      Als sie in den Saal trat, kam der Vater hastig aus dem Zimmer der Gräfin. Sein Gesicht war kummervoll und mit Tränen benetzt, er schien aus dem Zimmer entflohen zu sein, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Als er Natalie erblickte, brach er mit einer verzweifelten Gebärde in krampfhaftes Schluchzen aus.

      »Petja!… Petja!… Komm! Komm!… Sie… sie ruft dich!…« Und weinend wie ein Kind ging er zu einem Stuhl, fiel darauf nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

      Plötzlich fuhr etwas wie ein elektrischer Schlag durch Natalies ganzes Wesen, und sie fühlte einen brennenden Schmerz. Als sie den Vater ansah und aus dem Zimmer der Mutter einen schrecklichen wilden Aufschrei vernahm, vergaß sie sich

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