Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
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Читать онлайн книгу Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte - Kurt Tucholsky страница 32
Jemand meldete sich, auf schwedisch. Ich sprach aufs Geratewohl deutsch. »Kann ich Frau Adriani sprechen?« Lange Pause. Dann eine harte, gelbe Stimme. »Hier Frau Direktor Adriani!« Ich meldete mich. Und da brach es drüben los.
»Das Kind ist wohl bei Ihnen? Ja?« – »Ja.« – »Sie geben es sofort … Sie schicken mir sofort das Kind! Ich werde es abholen lassen – nein: Sie schicken es mir sofort … Sie bringen mir auf der Stelle das Kind zurück! Ich zeige Sie an! Wegen Kindesentführung! Das haben Sie dem Kind in den Kopf gesetzt! Sie! Was? Wenn das Kind nicht in einer halben Stunde … nicht in einer halben Stunde bei mir … Haben Sie mich verstanden?« In mir schnappte das Regulativ ein, das die Feder zurückhält. Ich hatte mich fest an der Leine. »Wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen!« Ein Knack – es wurde abgehängt.
»Lydia«, sagte ich. »Was nun? Ich werde mit der Alten schon reden – diesmal ist sie dran. Aber die Sachen von dem Kind … Es hilft nichts: wir müssen das Kind mitnehmen, sonst bekommen wir nicht alles!« – »Hm.« – »Und wenn wir es hier in Gripsholm lassen, dann ist die Alte imstande und nimmt es von hier fort, und das ganze Theater fängt von vorn an. Erklär das mal dem kleinen Gegenstand!« Das dauerte zehn lange Minuten; ich hörte die Kleine nebenan weinen und immer wieder weinen, dann wurde sie ruhiger, und als nun auch die Schloßfrau auf sie einsprach, wurde sie still. »Nehmen Sie mich auch gewiß … nehmen Sie mich auch ganz gewiß wieder mit?« fragte sie immer wieder. Wir redeten ihr gut zu. »Sie weinete, Er tröstete den Trost aus voller Brust –«, sagte die Prinzessin leise. Und dann gingen wir.
Wir sprachen, damit das Kind uns nicht verstände, französisch. »Du springst ihr doch hoffentlich gleich mit dem Brief und mit dem Scheck ins Gesicht?« – »Lydia«, sagte ich. »Lassen wir sie ein kleines Weilchen toben. Ein Hälmchen … Ich möchte noch mal sehn, wie das ist. Nur ein Weilchen!« Die Prinzessin fiel murrend aus dem Französischen in ihr geliebtes Plattdeutsch. »Ick schall mi von Schap beeten laten, wenn ick ’n Hund in de Tasch hebb?« Und nun wandten wir uns wieder zu der Kleinen, die unruhiger wurde mit jedem Schritt, der uns dem Kinderheim näher brachte. »Darf ich auch wieder heraus? Aber sie läßt mich ja nicht – sie läßt mich ja nicht!« – »Wir müssen doch deine Sachen holen, und du brauchst keine Angst zu haben …« Als wir das Kinderheim sahen, sagten wir gar nichts mehr. Ich legte der Kleinen leise meinen Arm um die Schultern. »Komm – das geht gut aus!« Sie ließ sich ein bißchen ziehen, aber sie ging still mit. Wir brauchten nicht zu klopfen – die Tür war offen.
Frau Adriani stand unten in der Halle, sie war über eine Truhe gebeugt und wandte uns den Rücken zu. Als sie unsre Schritte hörte, drehte sie sich blitzschnell um. »Ah – da sind Sie ja! Na, das ist Ihr Glück! Sind Sie meinem Mädchen nicht begegnet? Nein? Na, es ist schon jemand unterwegs, falls Sie nicht gekommen wären … Wo bist du hingelaufen, du Teufelsbraten!« schrie sie das Kind an: »Wir sprechen uns nachher! Nachher sprechen wir uns! Los jetzt!« Das Kind verkroch sich hinter die Prinzessin. »Einen Augenblick«, sagte ich. »So schnell geht das nicht. Warum ist das Kind von Ihnen fortgelaufen?« – »Das geht Sie gar nichts an!« schrie Frau Adriani. »Gar nichts geht Sie das an! – Komm her, mein Kind!« Sie ging auf das Kind zu, das ängstlich zusammenzuckte. Sie legte der Kleinen die Hand auf den Kopf. »Was sind denn das für Dummheiten! Wozu läufst du denn vor mir fort? Hast du Angst vor mir? Du mußt vor mir keine Angst haben! Ich will doch dein Bestes! Da läufst du nun zu fremden Leuten … stehen dir denn diese fremden Menschen näher als ich? Ich habe dir doch erzählt: die sind nicht mal richtig verheiratet …« Sie sprach so falsch-eindringlich in das Kind hinein, aber ihre Stimme wußte sich gehört; sie sprach gewissermaßen im Profil. »Läufst hier fort …!« Das Kind schauerte zusammen.
»Kann ich Sie wohl mal sprechen?« sagte ich sanft. – »Was … wir haben uns nichts zu sagen!« – »Vielleicht doch.« Wir gingen alle in den Eßsaal.
»Also das Kind ist zu Ihnen gelaufen! Das ist ja reizend! Ihr Glück, daß Sie es auf meine Weisung sofort wiedergebracht haben! Sie wird nicht mehr weglaufen – das kann ich Ihnen versprechen: so ein Geschöpf! Na warte …« – »Das Kind muß doch einen Grund gehabt haben, wegzulaufen!« sagte ich. »Nein. Das hat es gar nicht gehabt. Es hat keinen Grund gehabt.« – »Hm. Und was werden Sie nun mit ihm machen?« – »Ich werde es bestrafen«, sagte Frau Adriani satt und hungrig zugleich. Sie reckte sich in ihrem Stuhl. »Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Wie werden Sie es bestrafen?« – »Ich brauchte Ihnen darauf keine Antwort zu geben – ich muß das nicht. Aber ich sage es Ihnen, denn es ist im Sinne von Frau Collin, im Sinne von Frau Collin, daß das Kind streng gehalten wird. Sie wird also Zimmerarrest bekommen, die kleinen Hausstrafen, Arbeiten, es darf nicht mit den andern spazierengehn – so wird das hier gemacht.« – »Und wenn wir Sie bitten, dem Kind die Strafe zu erlassen … täten Sie das?« – »Nein. Dazu könnte ich mich nicht entschließen. Da könnten Sie bitten … Das wollten Sie mir sagen?« fügte sie höhnisch hinzu. »Nun … Behandeln Sie denn alle Kinder so? Man muß manchmal streng sein, gewiß, aber die Kinder so zur Verzweiflung treiben …« – »Wer treibt hier die Kinder zur Verzweiflung! Erziehen Sie Ihre Kinder, verstehn Sie! Wenn Sie mit der Dame da welche haben! Dieses hier erziehe ich!« – »Ga hen und fleut die Hühner und verget den Hahn nich!« murmelte die Prinzessin. »Was sagten Sie?« fragte Frau Adriani. – »Nichts.« – »Ich habe meine Grundsätze. Solange ich die Macht über das Kind habe …«
Ich sah ihr fest in die Augen … einen Augenblick lang noch ließ ich sie zappeln in ihrer wahnwitzigen und ungeduldigen Wut. Immer liefen ihre flinken Augen von uns zu dem Kind und wieder zurück, sie wartete auf das Kind. Ich überlegte, wieviel Menschen auf der Welt in der Gewalt solcher da sein mochten, und wie das nun wäre, wenn wir ihr das Kind wirklich überlassen müßten, und was die andern Kinder hier auszustehen hätten … »Also – jetzt werde ich das Nötige in die Wege leiten …« Frau Adriani stand auf. Da packte ich zu.
»Das Kind wird nicht bei Ihnen bleiben«, sagte ich. »Waaas –?« brüllte sie und stemmte die Arme in die Seite. »Wir nehmen das Kind zu seiner Mutter zurück. Hier ist ein Brief von Frau Collin, hier ist ein Scheck … wir werden gleich bezahlen …« Über das Gesicht der Frau lief wie eine Welle überkochende Milch ein Schreck; man sah, wie es in ihr dachte; man hörte sie denken, sie glaubte nicht. »Das ist nicht wahr!« – »Doch, das ist wahr. Nun kommen Sie nur – setzen Sie sich wieder hin … ich werde Ihnen das alles hübsch der Reihe nach übergeben.« – »Du gehst nach oben!« herrschte sie das Kind an. »Das Kind bleibt hier«, sagte ich. »Das ist der Brief. Die Unterschrift ist beglaubigt.« Frau Adriani riß ihn mir aus der Hand.
Dann warf sie ihn der Prinzessin vor die Füße. »Das ist der Dank!« schrie sie. »Das ist der Dank! Dafür habe ich mich um diesen verwahrlosten Balg gekümmert! Dafür habe ich für sie gesorgt! Aber das … das haben Sie der Frau Collin eingeredet! Sie haben sie aufgehetzt! Sie haben mich verleumdet! Das werde ich … Raus! Sie …!« – »Wir nehmen also das Kind gleich mit. Sie werden augenblicklich die Sachen packen lassen und mir die Rechnung übergeben. Dafür bekommen Sie gegen Quittung diesen Scheck. Er ist auf Stockholm ausgestellt.« Geld! Geld war im Spiel! Die Frau blendete über und wechselte sofort die Tonlage. Sie sprach viel ruhiger, kälter – sehr fest.
»Die Rechnung kann ich Ihnen im Augenblick nicht machen. Das Kind hat mir vieles zerbrochen, da sind Schadenersatzansprüche. Selbstverständlich muß bis zum Quartalsende gezahlt werden – das ist so ausgemacht. Selbstverständlich. Und dann muß ich erst zusammenstellen lassen, was hier alles im Haus durch die Schuld dieses Mädchens entzweigegangen ist. Das dauert mindestens eine Woche.« – »Sie schreiben mir jetzt eine Quittung über den Scheck aus; er deckt die Kosten bis zum Vierteljahrsschluß, dann bleiben noch zweiundfünfzig Kronen übrig … über den Rest werden Sie sich mit Frau Collin einigen. Das Kind kommt mit uns mit.« Das Kind hatte aufgehört zu weinen, es sah fortwährend von