Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
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»Nun will ich Ihnen mal was sagen«, rief sie. »Wenn Sie sich unterstehn, sich hier noch einmal blicken zu lassen, dann werde ich die Polizei benachrichtigen! Sie haben hier gar nichts zu suchen – verstehn Sie mich! Das ist unerhört! Auf der Stelle verlassen Sie mein Haus! Sie betreten mir nicht mehr meine Schwelle! Und probieren Sie es ja nicht noch einmal, hier herumzuspionieren – ich werde … Ich muß mir doch einen Hund anschaffen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ich werde der Frau Collin schreiben, wen sie sich da ausgesucht hat – wo ist überhaupt der Brief?«
Ich winkte der Prinzessin mit den Augen ab, niemand antwortete, wir gingen langsam auf die Haustür zu. Ich fühlte, wie die Frau eine Winzigkeit unsicher wurde. »Wo … wo der Brief ist?« – Wir sprachen nicht, wir verabschiedeten uns nicht, das hatte sie ja schon besorgt, wir gingen stumm hinaus. Drohen? Wer droht, ist schwach. Wir hatten noch nicht mit Zürich telephoniert.
Als die Frau sah, daß wir schon an der Haustür standen, verfiel sie in hemmungsloses Gebrüll; man hörte eilige Schritte auf dem Steinfußboden unten im Keller, also liefen dort die Hausmädchen zusammen und horchten. »Ich verbitte … ich verbitte mir ein für allemal Ihre Besuche! Scheren Sie sich raus! Und kommen Sie ja nicht wieder! Wer sind Sie überhaupt … zwei verschiedene Namen! – Heiraten Sie lieber!« schrie sie ganz laut. Und dann waren wir draußen. Die Tür schloß sich mit einem Knall. Bumm. Da standen wir.
»Hm –«, machte ich. »Das war ein großer Sieg.«
»Na, Daddy, da ist nichts zu machen. Das ist ja eine Megäre – was haben wir nun?« – »Jetzt haben wir ein bleiches Nein erhalten, wie wir Schweden sagen. Also werden wir telephonieren.« – »Sowie wir nach Hause kommen. Aber wenn du das der Frau Collin nicht richtig sagst, was hier los ist … wie der kleine Gegenstand ausgesehen hat! So vermiekert – und verprügelt! Sei schümpt un schümpt ümmerlos … De is aber steelhaarig! Gotts Blix, die müßt man ja in Öl kochen –!« Das fand ich zu teuer.
Wir gingen auf das Wäldchen zu, in dem Billie sein mußte. Und schimpften furchtbar auf die Frau Adriani. Und suchten Billie. »Billie! Billie!« Kein nichts und kein gar nichts. »Ob dieses rothaarige Luder glücklich ist?« – »Daddy, du stellst manchmal komische Fragen! Ob sie glücklich ist …! Das Kind ist unglücklich! Donnerhagel was machen wir denn da? Wir müssen dem Kind helfen! Das kann man ja nicht mit ansehn! Und nicht mit anfühlen! Herrgott von Bentheim! Billie!«
Wir stolperten beinah über sie.
Sie lag hinter einer kleinen moosigen Erhöhung, in einer Erdfalte; auf dem Bauch lag sie, die langen Beine nach oben gestreckt, sie las und schlug von Zeit zu Zeit ihre Füße zusammen. »Ja? Na, was habt ihr … was war?« Wir erzählten, beide zu gleicher Zeit, und nun war aus Frau Adriani bereits ein feuerspeiender Berg geworden, eine ganze Hölle von kleinen und großen Teufeln, die Vorsteherin einer Affentanz-Schule und ein Scheusal schlechthin. Nun, die Frau war ja wirklich eine starke Nummer.
Ich sah auf die beiden, während sie sich besprachen. Wie verschieden sie doch waren! Die Prinzessin Feuer und Flamme; das Kinderleid hatte sie aufgebracht, ihr Herz sprühte. Billie bedauerte das Kind, aber es war, wie wenn ein Fremder in der Untergrundbahn »Verzeihung!« sagte … sie bedauerte es artig und wohlerzogen und ganz unbeteiligt. Vielleicht, weil sie das alles nicht so mit erlebt hatte. Die Gleichgültigkeit so vieler Menschen beruht auf ihrem Mangel an Phantasie.
»Wir wollen noch ein wenig spazieras«, sagte die Prinzessin. – »Wohin?« – »Kommt ihr mit …? Ich möchte mir mal das Grab ansehen. So ein Scheusal …« Das Gewitter gegen die Rothaarige vergrollte langsam. Wir gingen und machten einen weiten Umweg um das Kinderheim. »Gleich, wenn wir nach Hause kommen – aber gleich«, sagte die Prinzessin, »melden wir Zürich an. Wir müssen un müssen dem Kind da rauskriegen! Die Frau Adriani entbehrt nicht einer gewissen Charmanz!« Billie pfiff leise vor sich hin. Ich starrte in eine dunkle Baumgruppe und las aus den Blättern ab: Ich hatte Billie haben wollen, ich fühlte, daß ich sie nicht bekommen würde, und jetzt hatte ich einen sittlichen Grund, sie niedriger zu stellen als Lydia. Billie hatte kein Herz. Hast du ihr Herz geliebt, du Lügner? Sie hat so lange Beine … Ja, aber sie hat kein Herz.
Wir gingen langsam durch den Wald, die beiden unterhielten sich – nun ruddelten sie. »Ruddeln«, das ist so ein Wort für: klatschen, über jemand herziehen. Man konnte gar nicht folgen, so schnell ging es. Hopphopphopp … schade, daß man nicht dabeisein kann, wenn die andern über uns sprechen – man bekäme dann einigermaßen die richtige Meinung von sich. Denn niemand glaubt, daß es möglich sei, so unfeierlich, so schnell, so gleichgültig-nichtachtend Etiketten auf Menschenflaschen zu kleben, wie es doch überall geschieht. Auf die andern vielleicht – aber auf uns selber?
Billie: »… hat er ihr versprochen, und wie es soweit war, nichts.« – »Ihre Dummheit«, sagte Lydia. »Bei Empfang: die Ware – das Geld, wie mein Papa immer sagt. Vertrauen! Vertrauen! Es gibt doch nur eine Sicherheit: Fußangeln. Wie?« Merkwürdig, woher sie das hatte. So schlechte Erfahrungen hatte sie doch gar nicht hinter sich …
Billie ging wie eine Tanzende: Es federte alles an ihr. Sie trug eigentümliche Kleiderstoffe – ich wußte nicht, wie das hieß; es war buntes und grob gewebtes Zeug, heute zum Beispiel sah sie aus wie eine Indianerin, die sich aus ihrem Hochzeitszelt einen Rock geschneidert hatte – und so viele Armbänder! Gleich, dachte ich, wird sie die Arme in die Luft werfen, die schöne Wilde, und mit einem Liebesruf in den Wald stürzen, zu den andern … Schade, daß sie kein Herz hat.
»Seht ihr, da hinten liegt der Friedhof! Doch, wir schaffen das noch bis zum Abendbrot – also!« Wir gingen rascher. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, dann wurden die Windstöße stärker, ein hauchzarter Regen fiel. Manchmal trug der Wind etwas wie Meeresatem herüber, von der See, von der Ostsee.
Nun waren wir angelangt, da war eine kleine Holztür, und über die niedrige Steinmauer ragten alte Bäume. Es war ein alter Friedhof; man sah das an den verwitterten, ein wenig zerfallenen Gräbern auf der einen Seite. Auf der andern standen die Gräber hübsch ordentlich in Reih und Glied … gut gepflegt. Es war ganz still; wir waren die einzigen, die die Toten heute nachmittag besuchten – die wen besuchten? Man besucht ja nur sich selber, wenn man zu den Toten geht.
»Welche Reihe …? Warte mal, das hat sie hier im Brief aufgeschrieben. Achtzehnte … nein, vierzehnte … eins, zwei … vier, fünf …« Wir suchten. »Hier«, sagte Billie.
Da war das Grab. So ein kleines Grab.
und ein paar windverwehte Blumen. Wir standen. Niemand sprach. Ob das nun der Auftritt von vorhin war oder die Tatsache, daß es so ein winzig kleines Grab war, dieser Gegensatz zwischen der Inschrift Wilhelm Collin und dem Hügelchen – das war doch in Wahrheit noch gar kein Wilhelm gewesen, sondern ein wehrloses Bündelchen Fleisch, das man hätte beschützen sollen … Eine Träne fing ich nicht mehr, sie rollte. »Heul nicht«, sagte die Prinzessin, die zwinkerte, »heul nicht! Die Sache ist viel zu ernst zum Weinen!« Ich schämte mich vor Billie, die uns mitleidsvoll ansah. Ihre Augen blickten warm. Sie sagte leise etwas zur Prinzessin, und als nun beide zu mir herübersahen, fühlte ich, daß es etwas Freundliches gewesen sein mußte. Ich vergaß, daß ich Billie begehrt hatte, und flüchtete zu der Prinzessin.
In Gripsholm meldeten wir Zürich an.
»Da liegt sozusagen die Sittlichkeit mit der Moral im Streite«, sagte die Prinzessin, und wir lachten noch, als wir uns an den großen Tisch in unserm Zimmer setzten. Die Schloßfrau hatte Billie auseinandergesetzt, es wäre gar nicht wahr, daß »alle Schweden immer nackt badeten«, wie man so oft sagen hörte. Gewiß, manchmal, in den Klippen, wenn sie unter sich wären … aber im übrigen wären es Leute wie alle andern auch, wenig wild nach irgendeiner Richtung, es