Oliver Twist. Charles Dickens
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Die alte Dame gab keine Antwort, wischte sich nur die Augen und dann die Brille ab, die sie auf die Bettdecke gelegt hatte – ganz so, als ob die Brille und ihre Augen unbedingt zusammengehörten -, dann brachte sie Oliver ein beruhigendes Getränk, tätschelte ihm die Wange und sagte ihm, er müsse sehr ruhig liegen, damit er nicht wieder krank werde.
Oliver gehorchte sofort, teils, weil er um alles in der Welt die gute alte Dame nicht gekränkt hätte, und dann auch, weil ihn die wenigen Worte, die er gesprochen, wirklich vollständig erschöpft hatten. Er verfiel bald in eine Art Halbschlummer, aus dem er erst durch den Schein einer Kerze geweckt wurde, die ihm, in die Nähe des Bettes gebracht, einen Herrn zeigte, der in der einen Hand eine Uhr hielt und mit der anderen seinen Puls befühlte und dann behauptete, dass es ihm schon weit besser ginge.
»Es geht dir doch auch besser, nicht wahr, Kind?« fragte der Herr.
»Ja, ich danke, Sir«, erwiderte Oliver.
»Natürlich, ich weiß doch, dass es dir besser geht«, sagte der Doktor. »Du bist auch selbstverständlich hungrig.«
»Nein, Sir«, antwortete Oliver.
»Hm«, flüsterte der Arzt. »Nein? Natürlich ja; ich weiß doch, dass du gar nicht hungrig bist. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte er dann und legte seine Stirn in tiefe Weisheitsfalten.
Die alte Dame machte eine achtungsvolle Verbeugung, die besagen sollte, dass sie den Doktor für einen ungemein gescheiten Herrn halte. Der Doktor schien von sich selbstverständlich die gleiche Ansicht zu haben.
»Du bist also schläfrig, nicht wahr, Kind?« fragte er weiter.
»Nein«, antwortete Oliver.
»Nein«, sagte der Doktor mit pfiffiger Miene, »du bist nicht schläfrig. Auch nicht durstig natürlich, wie?«
»Doch, Sir, ziemlich durstig«, antwortete Oliver.
»Ganz wie ich erwartete, Mrs. Bedwin«, sagte der Arzt, »selbstverständlich muss er durstig sein. Sie können ihm ein wenig Tee geben, liebe Mrs. Bedwin, und etwas trocknes Brot, aber ja keine Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Mrs. Bedwin, geben Sie aber auch acht, dass er nicht friert. Werden Sie sich das alles merken?«
Die Dame knixte. Der Arzt kostete das kühlende Getränk, sprach seine Billigung darüber aus und schritt von dannen. Seine Stiefel knarrten, wie er die Treppe hinunterstieg, sehr laut und verrieten, was für eine hochwichtige Person in ihnen stack.
Oliver schlummerte wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe zwölf Uhr. Zärtlich sagte ihm die alte Dame Gute Nacht und übergab ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben eingetreten war mit einem kleinen Bündel und darin einem dünnen Gebetbuch und einer bauschigen Nachtmütze. Als sie letztere auf den Kopf gesetzt und ersteres neben sich auf den Tisch gelegt, erzählte sie Oliver, sie sei hergekommen, um bei ihm zu wachen. Dann zog sie ihren Stuhl an den Kamin und schlief ein. Wachte auch nicht mehr auf, höchstens für eine Sekunde, wenn sie vor Schnarchen beinahe erstickte. Aber jedes Mal rieb sie sich dann tüchtig die Nase und schien weiter keinen Schaden genommen zu haben.
So verging langsam die Nacht. Eine Zeit lag Oliver wach, dann fing er an, die kleinen Lichtkreise zu zählen die der Lampenschirm auf die Decke warf, oder verfolgte mit müdem Blick das verworrene Tapetenmuster. Bei dem Düster und der feierlichen Stille, die in der Stube herrschten, drängten sich ihm die Gedanken auf, wie viel Tage und Nächte der Tod hier gespuckt haben mochte, und dass er vielleicht jetzt noch das Zimmer mit der ganzen Schwermut seiner furchtbaren Gegenwart erfülle. Und er drückte sein Gesicht in die Kissen und betete inbrünstig zu Gott.
Allmählich verfiel er in einen tiefen ruhigen Schlummer, den nur das Gefühl, schweres Leid hinter sich zu haben, verleiht; – jene friedliche Ruhe, aus der zu erwachen Schmerz bedeutet. Wäre sie der Tod, wer würde gern daraus wiedererwachen zu all den Kämpfen und Mühsalen des Lebens und zu der Bangigkeit vor der Zukunft, zu all den trüben Erinnerungen, die aus der Vergangenheit wieder auferstehen!
Es war schon lange heller Tag, als Oliver die Augen aufschlug, und er fühlte sich froh und zufrieden, war doch die Krisis glücklich überstanden, und er gehörte wieder der Welt an.
Nach drei Tagen war er wieder fähig, in einem Lehnstuhl zu sitzen, den man ihm gut mit Kissen ausgestopft hatte und den Mrs. Bedwin selbst die Treppen hinunterschleppte in das kleine Haushälterinnenstübchen, das sie bewohnte. Dort saß nun Oliver neben dem Ofen, und die gute alte Dame setzte sich zu ihm und fing vor Freude, ihn wieder so wohl zu sehen, laut an zu weinen.
»Achte nicht auf mich, liebes Kind«, sagte sie, »ich weine mich nur gern von Zeit zu Zeit ein bisschen aus; jetzt ist es schon vorüber, und ich bin wieder ganz froh und vergnügt.«
»Sie sind so freundlich gegen mich«, sagte Oliver.
»Denke nicht darüber nach, mein Kind«, wehrte ihm die alte Dame. »Denke lieber an deine Suppe, denn es ist höchste Zeit, dass du wieder einmal etwas isst. Der Herr Doktor hat gesagt, Mr. Brownlow könne heute früh vorsprechen und dich besuchen, und da musst du ihm ein glückliches und zufriedenes Gesicht zeigen, damit er sich darüber freut.« Dann wärmte die alte Dame in einem Kessel ein wenig Fleischbrühe, die nach Olivers Ansichten an Kraft für mindestens dreihundertfünfzig Armenhäusler – gering geschätzt – ausgereicht hätte.
»Siehst du gerne Bilder, mein Kind?« fragte die alte Dame, als sie sah, wie Oliver gespannt auf ein Porträt blickte, das ihm gegenüber an der Wand hing.
»Ich weiß es nicht, Mrs. Bedwin«, sagte Oliver, ohne die Augen von dem Bild wegzuwenden. »Ich habe so wenig gesehen, dass ich es kaum zu sagen weiß. Was für ein schönes freundliches Gesicht die Dame dort hat.«
»Ach«, seufzte die alte Frau, »die Maler machen doch die Damen immer viel hübscher, als sie wirklich sind. Na ja, sonst würde