Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де Бальзак
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Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war immer noch Madame Vauquer, die Herrscherin dieses freien Hospizes. Für sie allein war der kleine Garten, den die Hitze und die Kälte, den Trockenheit und Feuchtigkeit wüst wie eine Steppe ließen, ein lachender Lustgarten. Für sie allein hatte dieses gelbe freudlose Haus, das nach dem Schimmel eines Krämerladens roch, seine Reize: Diese Gefangenenzellen gehörten ihr! Sie ernährte ihre auf Lebenszeit verurteilten Sträflinge und herrschte über sie mit unbestrittener Autorität. Wo hätten diese armen Wesen in Paris zum gleichen Preise eine gesunde, ausreichende Nahrung gefunden und eine Wohnung, die sie selbst, wenn auch nicht elegant und bequem, so doch wenigstens sauber und luftig finden konnten? Selbst wenn sich Madame Vauquer eine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, das Opfer hätte sie klaglos ertragen.
Eine solche Vereinigung von menschlichen Wesen mußte im kleinen die Elemente eines vollständigen Gesellschaftskörpers darbieten. Und so war es auch. Unter den 18 Tischgenossen fand sich wie in allen Schulen, wie in der Welt überhaupt, ein armes verstoßenes Geschöpf, eine Zielscheibe für alle Spöttereien. Zu Beginn seines zweiten Studienjahres wurde diese Figur für Eugen de Rastignac die bemerkenswerteste unter all denen, mit denen zu leben er noch für zwei Jahre gezwungen war. Dieser Prügelknabe war der ehemalige Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Haupt ein Maler das ganze Licht konzentriert hätte, so wie auch wir es tun müssen. Wie aber kam es, daß eine solche beinahe haßerfüllte Verachtung, eine solche mit Mitleid gemischte Verfolgungswut, daß eine solche Nichtachtung des Unglücks gerade diesen, den ältesten Pensionär traf? Hatte er selbst durch Lächerlichkeiten und Bizarrerien, die man weniger verzeiht als Laster, Anlaß dazu gegeben? Diese Fragen kann man bei mancher sozialen Ungerechtigkeit aufwerfen. Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur, gerade dem alles aufzubürden, der alles aus Demut, aus Schwäche oder Gleichgültigkeit trägt. Lieben wir es nicht alle, unsere Kraft auf Kosten eines anderen zu beweisen? Das schwächste Geschöpf, der Pariser Straßenjunge, läutet an allen Türen, wenn es draußen gefroren hat, oder er klettert auf ein Denkmal, um auf ihm seinen Namen zu verewigen.
Der Vater Goriot, ein Greis von etwa 69 Jahren, war im Jahre 1813 zu Madame Vauquer gezogen, nachdem er sein Geschäft aufgegeben hatte. Er bewohnte zunächst das Appartement, das jetzt Madame Couture innehatte, und er bezahlte damals 1200 Francs Pension, als ein Mann, für den 5 Louisdor mehr oder weniger eine Bagatelle sind. Madame Vauquer hatte die drei Zimmer des Appartements mit Hilfe einer von Vater Goriot im voraus gezahlten Entschädigung instand gesetzt. Das dürftige Inventar bestand aus Vorhängen von gelbem Kattun, aus lackierten Stühlen, die mit Utrechter Samt bezogen waren, aus einigen bunten Drucken und aus Tapeten, die man in Vorstadtkneipen zurückgewiesen hätte. Vielleicht ließ die sorglose Großzügigkeit des Vaters Goriot, den man zu dieser Zeit noch respektvoll Monsieur Goriot nannte, ihn als einen Dummkopf erscheinen, der nichts von Geldangelegenheiten versteht. Goriot zog mit einer reichen Garderobe ein, mit der ganzen Ausstattung eines Kaufmanns, der sich nichts abgehen läßt, wenn er sich zur Ruhe setzt. Madame Vauquer hatte 18 Hemden aus holländischem Batist bewundert, deren Feinheit um so bemerkenswerter war, als der Nudelfabrikant auf seinem Spitzentuch zwei durch ein Kettchen verbundene Nadeln trug, die beide je einen dicken Diamanten faßten. Gewöhnlich trug er einen kornblumenblauen Rock. Jeden Tag nahm er eine frische Weste aus weißem Pikee, unter der sich sein stattlicher Spitzbauch wölbte, auf dem eine dicke Goldkette mit Anhängsein baumelte. Seine goldene Tabakdose zeigte ein Medaillon, das eine Haarlocke barg und ihn einiger Liebschaften verdächtig machte. Als seine Wirtin einmal behauptete, er sei ein Lebemann, ließ er um seine Lippen das zufriedene Lächeln des Bourgeois spielen, dem man schmeichelt. Seine Schränke waren voll von reichlichem Silberzeug aus seinem früheren Haushalt. Die Augen der Witwe leuchteten auf, als sie ihm beim Aus- und Einpacken der silbernen Löffel, der Bestecke und Soßennäpfe half. Auch verschiedene Silberplatten, ein Frühstücksgeschirr, alles in allem im Gewichte von mehreren Pfund Silber, hatte Goriot mitgebracht. Es waren Geschenke, die ihn an die freudigen Ereignisse seines Familienlebens erinnerten.
»Dies hier«, sagte er zu Madame Vauquer, indem er ihr eine Platte und ein Kännchen zeigte, auf dessen Deckel sich zwei Tauben schnäbelten, »ist das Geschenk, das mir meine Frau an unserem ersten Hochzeitstage machte. Das gute Wesen! Sie hatte alle Ersparnisse aus ihrer Mädchenzeit darauf verwandt. Sehen Sie, Frau Vauquer, ich möchte lieber die Erde mit meinen Nägeln aufkratzen, als mich von diesen Dingen trennen. Aber, Gott sei Dank, ich kann meinen Kaffee jeden Morgen für den Rest meiner Tage aus diesem Kännchen trinken. Ich bin nicht zu beklagen, für mich ist Brot genug gebacken.« Schließlich hatte Madame Vauquer mit ihren Elsteraugen auch einige Anleihepapiere entdeckt, die dem vortrefflichen Goriot nach oberflächlicher Schätzung ein Einkommen von 8000 bis 10 000 Francs sicherten. Seit diesem Tage hatte Madame Vauquer, geborene de Conflans, die damals 48 Jahre alt war, aber nur 39 gelten ließ, ihre eigenen Ideen. Obwohl Goriot an einer Schwellung der Tränensäcke litt, die ihn zwang, sich recht häufig die Augen zu wischen, fand sie ihn sehr angenehm und comme il faut. Auch schienen seine vollen Waden, ebenso wie seine lange starke Nase Qualitäten vorauszusagen, auf die die Witwe hielt. Und dies wurde durch das etwas dumme Vollmondgesicht des Alten bestätigt. Das mußte ein trefflich gebauter Kerl sein, fähig, all seinen Geist in Gefühlen auszugeben. Seine Haare, die wie Taubenflügel abstanden und die der Friseur des Polytechnikums jeden Morgen puderte, zeichneten auf seiner niedrigen Stirn fünf Löckchen ab, die seinem Gesicht recht gut standen. Obwohl ein wenig bäuerisch, war er doch stets adrett. Er nahm reichlich aus seiner Tabakdose, als ein Mann, der sicher ist, seine Dose stets voll von dem feinsten Macouba zu finden. Als daher Madame Vauquer am Tage des Einzugs von Monsieur Goriot zu Bett ging, wurde sie wie ein Rebhuhn in seinem Speck von dem Wunsch geröstet, das Bahrtuch Vauquer abzuwerfen und als Frau Goriot wieder aufzuerstehen. Sie träumte davon, sich zu verheiraten, ihre Pension zu verkaufen, an der Seite dieser feinen Blüte des Pariser Bürgertums zu wandeln, eine achtbare Dame im Stadtviertel zu werden, dort für die Armen Kollekten zu sammeln; sie träumte von hübschen Sonntagsausflügen nach Choisy, Soisy, Gentilly, vom Theater, das sie nunmehr nach freiem Belieben besuchen würde, in einer Loge, ohne mehr auf die Freibilletts warten zu müssen, die ihr im Monat Juli manchmal ihre Pensionäre schenkten. Kurz, sie erträumte sich das ganze Dorado des Pariser Bürgertums. Sie hatte noch niemandem verraten, daß sie, Sou bei Sou, 40 000 Francs aufgehäuft hatte. Vom finanziellen Standpunkt aus konnte sie sich somit gewiß als eine gute Partie betrachten. »Was das übrige betrifft, so nehme ich es mit dem Alten noch auf«, sagte sie sich, indem sie sich im Bett herumwälzte, als wollte sie sich selbst die Reize beweisen, deren Abdruck die dicke Sylvia jeden Morgen im Bett vorfand.
Von diesem Tage ab ließ sich Frau Vauquer drei Monate lang vom Friseur des Monsieur Goriot bedienen. Auch gab sie einiges Geld für ihre Toilette aus, was mit der Notwendigkeit begründet wurde, dem Haus in Anbetracht seiner vornehmen Gäste ein gewisses Dekorum zu verleihen. Sie bemühte sich sehr, einen Wechsel unter ihren Pensionären herbeizuführen und verkündete, daß sie in ihrem Haus in Zukunft nur noch durchaus »erstklassige Persönlichkeiten« aufnehmen werde. Sprach ein Fremder bei ihr vor, so rühmte sie besonders das Vertrauen, das Monsieur Goriot, »einer der angesehensten und größten Geschäftsleute von Paris«, ihr entgegengebracht hatte. Sie ließ Prospekte verteilen, an deren Kopf groß gedruckt prangte: HAUS VAUQUER. Es war, wie der Prospekt ausführte, eine der ältesten und geachtetsten bürgerlichen Pensionen des Quartier Latin. Es gäbe da eine herrliche Aussicht auf das Tal von Gobelins (man konnte es von der dritten Etage aus tatsächlich sehen) und weiter einen »hübschen Garten«, an dessen Ende sich eine Lindenallee hinziehe. Madame Vauquer sprach in dem Prospekt auch von guter Luft und ruhiger Lage.
Dieser Prospekt führte ihr die Gräfin de l'Ambermesnil zu, eine Frau von 36 Jahren, die die Regelung einer Pension abwarten wollte, welche ihr als Witwe eines »auf dem Felde der Ehre« gefallenen Generals zustand. Madame Vauquer sorgte für besseres Essen, ließ im Salon sechs Monate lang heizen und hielt die Versprechungen des Prospektes so gut, daß sie »zulegte«. Dafür versprach die Gräfin der Madame Vauquer, die sie ihre »liebe Freundin« nannte, daß sie ihr die Baronin Vaumerland und die Witwe des Obersten Graf Picquoiseau zuführen würde, zwei ihrer Freundinnen, die im Viertel