Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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Der Baron war auf sein Kissen zurückgesunken, nachdem er versucht hatte, sich von demselben zu erheben; glücklicherweise aber war es dem Afterarzt und Pseudodoktor Christoph Pechlin gegeben, desto fester auf den Füßen stehen zu bleiben, nachdem er sich aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte. Er vermochte sogar noch mehr. Mit einer Verbeugung, welche ihm wahrscheinlich nicht einer seiner früheren Kommilitonen zugetraut haben würde, trat er der gnädigen Frau entgegen und stellte sich ihr vor, ganz unbefangen eingedenk des Wortes: Wie machen wir’s, dass dich meine Lucie ohne Widerwillen bei sich empfängt? –
Er nannte seinen Namen und gab sich als Hausgenosse zu erkennen. In kurzen, doch höchst wohlgesetzten Worten gab er der gnädigen Frau über sein früheres Verhältnis zu dem Assessor und Baron Ferdinand von Rippgen Nachricht, und freute sich unendlich, nun auch die Gattin seines Freundes kennen zu lernen; die Baronin ließ ihn nach einer kurzen Verbeugung reden und sah ihn nur an. Sie sah ihn an!
Wenn die Frau Baronin jemanden, der sich ihr vorstellen ließ oder sich selber ihr vorstellte, lange ansah, so war es kaum nötig, dass er sich in ein gutes oder sogar sehr gutes Licht zu stellen suchte; die gnädige Frau fand schon allein heraus, was er für sie bedeute, und er kam selten auf die Kosten seines Eigenlobes. Und welch ein Schleier war in diesem besonderen Falle sofort von den Augen der Gnädigen abgefallen! Lucie von Rippgen hatte bereits seit fünf Minuten den Doktor Pechlin seinem ganzen Werte nach erkannt, wusste ganz genau, wie sie sich von jetzt an ihm gegenüber zu verhalten habe, und hatte im Innersten ihrer Seele ihre Maßregeln bereits genommen. Wenn sie sich diesmal, was die letzteren anbetraf, ein wenig verrechnete, so lag die Schuld wahrlich nicht auf ihrer Seite. Die Bedeutung und der Wert des Platonübersetzers lagen zwar auf der Hand; jedoch die Art und Weise, wie er als Herr Christoph Pechlin behandelt werden musste, war doch nicht so leicht herauszufinden. Dass dem Monstrum beizukommen war, stand fest; lassen wir also der gnädigen Frau die feste Überzeugung, dass sie ihm beikommen werde, unerschüttert. Die Menschen leben eben deshalb in Haufen auf der Erde, um einander Gelegenheit zu geben, ihren Scharfsinn aneinander zu erproben, ihr Mütchen aneinander zu kühlen und sich das Leben so angenehm als möglich zu machen.
Fürs erste betrug sich Lucie außergewöhnlich impertinent.
Fürs zweite log der Ex-Stiftler, wie er glaubte, mit ausnehmendem Geschick, und – drittens – verfehlte beides ganz und gar seinen gewünschten Zweck, – ganz und gar dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge auf dieser Erden zuwider.
Die gnädige Frau glaubte nicht, dass Pechle in der vergangenen Nacht durch ein schrilles Hilferufen Katharinens erweckt worden und für sein eilig gutmütiges Zuhilfeeilen durch ein Erkennen des Freundes in dem unbekannten, so plötzlich erkrankten Hausgenossen belohnt worden sei. Die gnädige Frau glaubte nicht an dieses plötzliche Unwohlsein ihres Mannes und noch viel weniger daran, dass nur der Jugendfreund durch sein schleuniges Ein- und Beispringen den Gatten gerettet habe. Sie konnte sich auf ihre Nase verlassen und blickte zugleich auf die leere und die halbvolle Weinflasche neben dem Sessel des Doktors, doch leider imponierte dieser Blick dem freundlichen Menschen gegenüber gar nicht.
Was ein beleidigtes Weib an Verachtung in ein Achselzucken zusammenfassen kann, das raffte Lucia von Rippgen zusammen und zeigte es Herrn Christoph Pechle aus Waldenbuch. Der Doktor Pechlin aber übersah die Gebärde vollkommen und wurde nur um einige Schattenstufen liebenswürdiger und zutunlicher; in seiner Widerlichkeit furchtbar, sah er sogar nach seiner Uhr und freute sich, die herrlichen Genüsse freundschaftlichen Seelenaustausches noch eine Weile ausnutzen zu dürfen. Und als darauf die Baronin sich erhob, ihm den Rücken wandte und an das Fenster trat, und er doch nicht ging, hielt sie ihn für dumm, und damit hatte Pechlin – für diesmal wenigstens – den Sieg gewonnen und beherrschte die Situation.
Der Held auf dem Sofa stand Höllenqualen geistiger und körperlicher Angst aus. Seine Fantasie zerarbeitete sich, nicht ohne Grund, in der Ausmalung dessen, was geschehen werde, wenn der Freund nach gemachter Bekanntschaft von seiner Hausgenossin Abschied genommen haben und in heiterer Sicherheit oben auf seiner Stube sitzen werde. Ach, der Baron wusste, dass er selber nicht in Sicherheit auf seinem Marterkissen liege! Verstohlen hielt er unter der überhängenden Tischdecke den schändlichen Verführer an einem Schoße seines schwarzen kandidätlichen Frackes, und Pechle verstand den krampfhaften Griff ganz gut, hatte Erbarmen mit dem wehrlos Daniederliegenden und ging noch nicht.
Nein, er ging noch nicht. Er wurde liebenswürdiger und liebenswürdiger, und die gnädige Frau gewann von Minute zu Minute mehr die Überzeugung, dass sie ihm ohne die geringsten Gewissensbisse den Hals umdrehen könne. Sie kam vom Fenster zurück und setzte sich von neuem. Sie rauschte von neuem empor und wollte mehr als einmal alles aufgeben und hinausrauschen; aber der uralte unheimliche Kitzel, zu sehen, wie weit ein Mensch seine Unverschämtheit treiben könne, hielt sie dann doch wieder zurück. Sie blieb und wurde, als Pechle auch blieb, gespensterhaft ruhig; aber der Studiosus der Theologie Christoph Pechlin war nicht umsonst aus dem Tübinger Stift ausgebrochen, – er blieb, er hatte sich längst vorgenommen, jeglicher Gespenster-, Geister-, und Geist-Erscheinung gegenüber – zu bleiben. Geradeso wie er sich vorgenommen hatte, nach dem Plato den Aristophanes zu übersetzen. –
Pechle trieb seine Unverschämtheit sehr weit, während die Baronin sich immer tiefer in den Charakter und die Lebensführung der berüchtigsten Giftmischerinnen hineinfand und in ihrem stillsten Herzen der Frau Lucretia Borgia ein makelloses Leumundszeugnis ausstellte. In ganz gehaltenem, elegisch-zärtlichem Tone sprach er von jenem schönen unschuldigen Tage, an welchem ihm der Freund zum ersten Mal begegnete, und selbstverständlich benutzte er die Gelegenheit, seinen Schwur, dem Freunde bis in den Tod Freund zu bleiben, nun auch vor der Gattin des Freundes zu wiederholen.