Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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Von der Aussicht auf die fernen blauen Alpen mit den silbern blitzenden Zacken wandte sich Christabel und griff in die Tasche ihres grünen Reisekleides. Da war das rosafarbige duftende Blättchen, welches die königliche württembergische Post am Ende des vorigen Kapitels nach München beförderte! Da war es, am rechten Ort und in den rechten Händen, und – den »Klemmer« auf den Nasenbug fester aufdrückend und zurechtrückend – entfaltete Miss Christabel Eddish den schriftlichen Hilfeschrei der verzweifelnden Unglücklichen in Stuttgart und überflog, nach einem letzten Blick auf die Stadt München, das Schreiben der Assessorin außer Dienst und Freifrau Lucia von Rippgen von neuem.
»Yes!« sagte sie, das Augenglas am schwarzen Bande fallen lassend. »Very merkwürdig! Diese Lucy ist eine sehr liebe Freundin von mir und hat sich immer sehr ausgezeichnet durch ein sehr großes Vertrauen gegen mich. Na, wir haben die Christabel von Coleridge zusammen gelesen in ihrer Cottage bei Dresden, und ich liebe diese Freundin, doch dieses ist sonderbar. O, sie ist sehr drängend, diese Lucy, sie würde sonst nicht geschrieben haben – so!«
Hier klopfte das schöne Fräulein mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf den Brief und fuhr nach einigem Kopfschütteln in ihrem Selbstgespräche fort:
»Ah, hier ist ihr Ehegemahl, ihr Mann und noch ein Mann; let my see – yes, P–ech–le! Das wird es sein, der wird sie bringen zu ihrer Verzweiflung, der Pichle wird verführt haben ihren Mann, und ich werde zu ihr gehen, da sie mich doch zu ihr ruft, wenn sie gleich weiß, dass ich gemietet habe meine Zimmer in Florenz und bin auf dem Wege nach Florenz – yes. Yes, ich werde sehen, was ihr fehlt, ich werde ihr kommen zur Hilfe gegen den Pichle, ich werde ihre Tränen abtrocknen. Oh yes, ich werde kehrtum machen und nicht nach Florenz gehen immediately, sondern nach Stuttgart, welches haben soll auch eine große Ähnlichkeit mit Florenz, was mir lieb ist. That is a very strange letter, ein merkwürdig sonderbarer Brief, und ich bin verpflichtet, mich meiner Freundin hinzugeben mit ganzer Seele. Ich will Virginy lassen in München hier und will wiederkommen nachher, obgleich es ist sehr unkomfortabel, aber ich werde kurz sein mit Mr. Pichle, und werde dem Baron in sein Gewissen hineinreden und werde Lucy trösten und schnell zurückkommen. Was sie will, weiß ich nicht, die deutschen Ladies sind so sehr unbestimmt in ihren Briefen, aber ich werde es erfahren, und ich werde ihr Hilfe und Tröstung bringen; denn ich fühle mich dazu gewachsen; ich fühle mich gewachsen auf der Erde jeder Erscheinung – »yes!«
»No!« entgegnete das Schicksal, unhöflich und brutal im höchsten Grade, das heißt, die Lust und den Humor der Sache unter der Maske grenzenloser Brutalität mit altbekannter Meisterhaftigkeit verbergend. Schon seit einigen Augenblicken hatten sich im Leibe der ehernen Schutzgöttin des Bayerlandes allerlei Töne vernehmen lassen: jetzt polterte es in ihrem Magen, und etwas stieg ihr über das Zwerchfell hinaus. Im Haupte schob Christabel den Brief der Freundin in die Tasche zurück, klemmte das Augenglas von neuem auf die Nase und horchte nach dem Halse hinunter.
Jetzt stöhnte und schnaufte es im Busen der Riesin, jetzt zwängte es sich durch die Kehle, es war kein Zweifel mehr, es stieg ihr wieder etwas zu Kopfe!
»Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit,
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«,
sagt Wallenstein, und wir überlassen, fast ebenso heimtückisch und vergnügt wie das Schicksal, es den Lesern, den Ausspruch des großen Feldherrn, Staatsmanns und Astrologen mit dem jetzt zu schildernden Zusammenstoß in Einklang zu bringen. Mit Aufbietung all ihrer Logik wird es ihnen hoffentlich gelingen.
Ein wenig ärgerlich über die Störung lauschte Miss Christabel Eddish nach dem Schlunde der Bavaria hinab, und jetzt erhob sich aus der Öffnung, die in das gigantische Haupt führt, langsam – langsam ein anderes Haupt!
Ein helle seidene schottische Reisemütze auf einem Walde brennend roter Haare! Ein brennend roter Backenbart! Ein gelblich Gesicht mit einem lippenlosen Mund, in welchem eine Reihe sehr gelber Oberzähne trotz aller herausfordernden nationalen Berechtigung recht melancholisch zutage trat! Ein langer – langer Hals, ein buntes Halstuch, und ein blendend weißer Hemdkragen:
Sir Hugh Sliddery, Kapitän im siebenundsiebenzigsten Infanterieregiment Ihrer Majestät Viktoria, Königin von Großbritannien und Irland, und ein Mann, der freilich seinen besten Freunden und seiner innigsten Freundin einen heillosen Schrecken einjagen konnte, auch wenn er ihnen gerade nicht, wie augenblicklich der letztern, im Kopfe der Bavaria im Halse heraufstieg!
Miss Christabel mit der Absicht, durchaus keine Notiz von der sich emporwindenden Störung ihrer stillen Natur- und Lebensbetrachtungen zu nehmen, sah einen Moment flüchtig hin und starrte sofort wie festgebannt durch das Verhängnis. Und das Haupt in der Rachenhöhle der Riesin starrte auf Miss Christabel aus gläsernen Augen, und die sich nachschiebenden Schultern zuckten im jähesten Schreck. Miss Christabel Eddish stieß einen gellenden Schrei aus, und fuhr zurück in den Hinterkopf der Bavaria, den Sonnenschirm gegen das Fürchterliche schleudernd und mit weit vorgestreckten Händen das Entsetzliche von sich abwehrend. Und weiter konnten sich die Augen des Kapitäns