Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe Gesammelte Werke bei Null Papier

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Chri­sta­bels Al­ter be­lief sich auf drei­ßig wohl­ge­zähl­te Jah­re, of­fi­zi­ell war sie je­doch, so­zu­sa­gen, durch ein son­der­ba­res, höchst sel­te­nes na­tur­his­to­ri­sches Er­eig­nis auf dem fünf­und­zwan­zigs­ten ste­hen ge­blie­ben und hielt sich dar­auf. Wie die Dame dies­mal in den Kopf der Ba­va­ria auf der The­re­si­en­wie­se bei Mün­chen hin­auf­ge­stie­gen war, so war sie je­der­zeit fä­hig, in Ka­li­for­ni­en in den höchs­ten Wip­fel der höchs­ten Wel­ling­to­nia gi­gan­tea, so war sie in je­dem Au­gen­bli­cke be­reit, auf die Spit­ze der höchs­ten Py­ra­mi­de bei Ghi­zeh hin­auf­zu­stei­gen, und der soll­te noch ge­bo­ren wer­den, der im­stan­de war, sie wi­der ih­ren Wil­len wie­der her­un­ter­zu­ho­len. Sie pfleg­te ihre Brie­fe mit ei­ner Gem­me zu sie­geln, auf wel­che eine nicht blü­hen­de Aloe als Sinn­bild ein­ge­schnit­ten war, und das Sym­bo­lum ver­dank­te sei­ne Ent­ste­hung ih­rer ei­ge­nen Er­fin­dung. Dass sie – Miss Chri­sta­bel – noch blü­hen muss­te, un­ter­lag kei­nem Zwei­fel; al­lein wel­cher Blu­mist kann ei­ner Aloe ge­gen­über ge­nau be­stim­men, wann es ihr ge­fäl­lig sein wer­de, das hol­de Wun­der ein­tre­ten zu las­sen? –

      Von der Aus­sicht auf die fer­nen blau­en Al­pen mit den sil­bern blit­zen­den Za­cken wand­te sich Chri­sta­bel und griff in die Ta­sche ih­res grü­nen Rei­se­klei­des. Da war das ro­sa­far­bi­ge duf­ten­de Blätt­chen, wel­ches die kö­nig­li­che würt­tem­ber­gi­sche Post am Ende des vo­ri­gen Ka­pi­tels nach Mün­chen be­för­der­te! Da war es, am rech­ten Ort und in den rech­ten Hän­den, und – den »Klem­mer« auf den Na­sen­bug fes­ter auf­drückend und zu­recht­rückend – ent­fal­te­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish den schrift­li­chen Hil­fe­schrei der ver­zwei­feln­den Un­glück­li­chen in Stutt­gart und über­flog, nach ei­nem letz­ten Blick auf die Stadt Mün­chen, das Schrei­ben der As­ses­so­rin au­ßer Dienst und Freifrau Lu­cia von Ripp­gen von neu­em.

      »Yes!« sag­te sie, das Au­gen­glas am schwar­zen Ban­de fal­len las­send. »Ve­ry merk­wür­dig! Die­se Lucy ist eine sehr lie­be Freun­din von mir und hat sich im­mer sehr aus­ge­zeich­net durch ein sehr großes Ver­trau­en ge­gen mich. Na, wir ha­ben die Chri­sta­bel von Co­le­ridge zu­sam­men ge­le­sen in ih­rer Cot­ta­ge bei Dres­den, und ich lie­be die­se Freun­din, doch die­ses ist son­der­bar. O, sie ist sehr drän­gend, die­se Lucy, sie wür­de sonst nicht ge­schrie­ben ha­ben – so!«

      Hier klopf­te das schö­ne Fräu­lein mit dem Knö­chel des rech­ten Zei­ge­fin­gers auf den Brief und fuhr nach ei­ni­gem Kopf­schüt­teln in ih­rem Selbst­ge­sprä­che fort:

      »Ah, hier ist ihr Ehe­ge­mahl, ihr Mann und noch ein Mann; let my see – yes, P–ech–le! Das wird es sein, der wird sie brin­gen zu ih­rer Verzweif­lung, der Pich­le wird ver­führt ha­ben ih­ren Mann, und ich wer­de zu ihr ge­hen, da sie mich doch zu ihr ruft, wenn sie gleich weiß, dass ich ge­mie­tet habe mei­ne Zim­mer in Flo­renz und bin auf dem Wege nach Flo­renz – yes. Yes, ich wer­de se­hen, was ihr fehlt, ich wer­de ihr kom­men zur Hil­fe ge­gen den Pich­le, ich wer­de ihre Trä­nen ab­trock­nen. Oh yes, ich wer­de kehr­tum ma­chen und nicht nach Flo­renz ge­hen im­me­dia­te­ly, son­dern nach Stutt­gart, wel­ches ha­ben soll auch eine große Ähn­lich­keit mit Flo­renz, was mir lieb ist. That is a very stran­ge let­ter, ein merk­wür­dig son­der­ba­rer Brief, und ich bin ver­pflich­tet, mich mei­ner Freun­din hin­zu­ge­ben mit gan­zer See­le. Ich will Vir­gi­ny las­sen in Mün­chen hier und will wie­der­kom­men nach­her, ob­gleich es ist sehr un­kom­for­ta­bel, aber ich wer­de kurz sein mit Mr. Pich­le, und wer­de dem Baron in sein Ge­wis­sen hin­ein­re­den und wer­de Lucy trös­ten und schnell zu­rück­kom­men. Was sie will, weiß ich nicht, die deut­schen La­dies sind so sehr un­be­stimmt in ih­ren Brie­fen, aber ich wer­de es er­fah­ren, und ich wer­de ihr Hil­fe und Trös­tung brin­gen; denn ich füh­le mich dazu ge­wach­sen; ich füh­le mich ge­wach­sen auf der Erde je­der Er­schei­nung – »yes!«

      »No!« ent­geg­ne­te das Schick­sal, un­höf­lich und bru­tal im höchs­ten Gra­de, das heißt, die Lust und den Hu­mor der Sa­che un­ter der Mas­ke gren­zen­lo­ser Bru­ta­li­tät mit alt­be­kann­ter Meis­ter­haf­tig­keit ver­ber­gend. Schon seit ei­ni­gen Au­gen­bli­cken hat­ten sich im Lei­be der eher­nen Schutz­göt­tin des Bayer­lan­des al­ler­lei Töne ver­neh­men las­sen: jetzt pol­ter­te es in ih­rem Ma­gen, und et­was stieg ihr über das Zwerch­fell hin­aus. Im Haup­te schob Chri­sta­bel den Brief der Freun­din in die Ta­sche zu­rück, klemm­te das Au­gen­glas von neu­em auf die Nase und horch­te nach dem Hal­se hin­un­ter.

      Jetzt stöhn­te und schnauf­te es im Bu­sen der Rie­sin, jetzt zwäng­te es sich durch die Keh­le, es war kein Zwei­fel mehr, es stieg ihr wie­der et­was zu Kop­fe!

       »Eng ist die Welt und das Ge­hirn ist weit,

       Leicht bei­ein­an­der woh­nen die Ge­dan­ken,

       Doch hart im Rau­me sto­ßen sich die Sa­chen«,

      sagt Wal­len­stein, und wir über­las­sen, fast eben­so heim­tückisch und ver­gnügt wie das Schick­sal, es den Le­sern, den Auss­pruch des großen Feld­herrn, Staats­manns und Astro­lo­gen mit dem jetzt zu schil­dern­den Zu­sam­men­stoß in Ein­klang zu brin­gen. Mit Auf­bie­tung all ih­rer Lo­gik wird es ih­nen hof­fent­lich ge­lin­gen.

      Ein we­nig är­ger­lich über die Stö­rung lausch­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish nach dem Sch­lun­de der Ba­va­ria hin­ab, und jetzt er­hob sich aus der Öff­nung, die in das gi­gan­ti­sche Haupt führt, lang­sam – lang­sam ein an­de­res Haupt!

      Ein hel­le sei­de­ne schot­ti­sche Rei­se­müt­ze auf ei­nem Wal­de bren­nend ro­ter Haa­re! Ein bren­nend ro­ter Ba­cken­bart! Ein gelb­lich Ge­sicht mit ei­nem lip­pen­lo­sen Mund, in wel­chem eine Rei­he sehr gel­ber Ober­zäh­ne trotz al­ler her­aus­for­dern­den na­tio­na­len Be­rech­ti­gung recht me­lan­cho­lisch zu­ta­ge trat! Ein lan­ger – lan­ger Hals, ein bun­tes Hals­tuch, und ein blen­dend wei­ßer Hemd­kra­gen:

      Sir Hugh Slid­de­ry, Ka­pi­tän im sie­ben­und­sie­ben­zigs­ten In­fan­te­rie­re­gi­ment Ih­rer Ma­je­stät Vik­to­ria, Kö­ni­gin von Groß­bri­tan­ni­en und Ir­land, und ein Mann, der frei­lich sei­nen bes­ten Freun­den und sei­ner in­nigs­ten Freun­din einen heil­lo­sen Schre­cken ein­ja­gen konn­te, auch wenn er ih­nen ge­ra­de nicht, wie au­gen­blick­lich der letz­tern, im Kop­fe der Ba­va­ria im Hal­se her­auf­stieg!

      Miss Chri­sta­bel mit der Ab­sicht, durch­aus kei­ne No­tiz von der sich em­por­win­den­den Stö­rung ih­rer stil­len Na­tur- und Le­bens­be­trach­tun­gen zu neh­men, sah einen Mo­ment flüch­tig hin und starr­te so­fort wie fest­ge­bannt durch das Ver­häng­nis. Und das Haupt in der Ra­chen­höh­le der Rie­sin starr­te auf Miss Chri­sta­bel aus glä­ser­nen Au­gen, und die sich nach­schie­ben­den Schul­tern zuck­ten im jä­he­s­ten Schreck. Miss Chri­sta­bel Ed­dish stieß einen gel­len­den Schrei aus, und fuhr zu­rück in den Hin­ter­kopf der Ba­va­ria, den Son­nen­schirm ge­gen das Fürch­ter­li­che schleu­dernd und mit weit vor­ge­streck­ten Hän­den das Ent­setz­li­che von sich ab­weh­rend. Und wei­ter konn­ten sich die Au­gen des Ka­pi­täns

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