Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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»Christabel!« rief Lucia halb sich aus den Kissen ihres Diwans emporrichtend und die ausgebreiteten Arme der Freundin entgegenstreckend. Und schon beugte die Britin sich über die unglückliche Frau und drückte ihr, während sie zu gleicher Zeit die Handschuhe abzog, einen Kuss auf die glühende Stirn und sagte:
»Siehst du, ich bin sogleich gekommen.«
»Ich wusste es«, schluchzte Lucy an ihrem Halse hängend. »Du musstest kommen! Ich habe dich deine Sachen packen sehen, ich habe dich zum Bahnhof begleitet! Mein armes Herz saß dir gegenüber im Kupee, und sieh, da liegt das Eisenbahnkursbuch – meine einzige Lektüre seit Tagen, und ich bin ruhiger und ruhiger geworden in der Überzeugung, meinen Brief hat sie bekommen – und jetzt hält der Zug in Gabelbachgereuth, und jetzt in Günzburg und nun in Leipheim, und da ist sie in Ulm, und in vier Stunden wirst du sie in den Armen halten und sie nicht wieder loslassen, bis du dich an ihrem Herzen ausgeweint, bis du dir in allem – allem Luft gemacht hast!«
»Yes!« sagte Miss Christabel Eddish, in die erste Windpause des Sturmes der Gefühle der Freundin mit der Frage sich einschiebend: »Und wo ist dein Mann, dein Gemahl, der Baron?«
»Denke dir, er ist davongegangen!« schrillte Lucie, krampfiger sich an der Schulter der hohen englischen Jungfrau festkrallend.
»Was?! Davongegangen? C’est à dire – run away? Durch – ge – gan – gen?!«
»Ja, ja und dreimal ja! Ich bin allein im Hause! Er hat es gewagt, der Elende! Er ist davongegangen mit dem grässlichen Barbaren, dem Menschen, der sich, wie ich dir schrieb, in mein Leben, meine Ruhe, mein Glück eingedrängt hat, der mit uns in diesem Hause wohnt, der sich wie ein Felsblock auf mich gewälzt hat, der allnächtlich über meinem Haupte die Maultrommel spielt, und gegen den ich machtlos, kraftlos und ohnmächtig bin! Pechle hat meinen Mann verführt! Stelle dir vor – stelle es dir recht lebhaft vor: Ferdinand macht mit ihm – diesem Pechle, gegen meinen Willen – Christabel, gegen meinen ausgesprochenen Willen, eine Tour in der Umgegend!«
»Das ist ihre Art so!« sprach Miss Christabel Eddish mit einer dumpfen Energie, die nur aus a posteriori, aus eigener Erfahrung gewonnener Überzeugung hervorbrechen konnte. Zu gleicher Zeit machte sie sanft die Hand der Freundin von ihrer schmerzenden Achsel los, schüttelte finster das Haupt und seufzte: »Manchmal – sogar sehr oft gehen sie auch weiter und begnügen sich nicht mit einer Tour in der Umgegend. O Lucy, dearest, erinnere dich an unsere besten Stunden, gib deiner Schwachheit nichts nach. Setze dich hin, und nach dem Tee wirst du mir alles ausführlich erzählen, und wir wollen ruhig überlegen, was wir zu tun haben werden, um dir zu helfen und uns zu rächen.«
»Ja, uns zu rächen!« murmelte die Baronin und wurde im fernern Verlauf des Abends in der Tat sehr ruhig und überlegte mit der Freundin sehr kühl, was zu tun und was zu lassen sei, um das Gewicht in den zwei Schalen wieder gleich zu verteilen und die so ruchlos gestörte Harmonie im Weltall wieder herzustellen. Bis tief in die Nacht hinein wogen beide Rosen, Lilien und Vergissmeinnicht ab und zu: versetzen wir uns einmal ihnen gegenüber recht lebhaft in die Stelle dessen, der die Wage hielt!
Das zehnte Kapitel.
Die Tage waren fast zu schön, um sich in und an ihnen zu ärgern, und doch wie viele Leute, die sich jetzt auf Reisen befanden, hatten ihren Ärger, ihre Angst mit auf den Weg genommen! Von dem Exkandidaten der Theologie Herrn Christoph Pechlin aus Waldenbuch konnte man dieses jedoch nicht behaupten, und der, welcher dergleichen erwartete, täuschte sich sehr in seiner Erwartung. Pechle gehörte eben zu den durchaus nicht sparsam über die Welt verstreuten Biedermännern, welche, dem bösesten Gewissen zum Trotz, bei Tage der allergemütlichsten Lebensstimmung und bei Nacht des allerbesten Schlafes sich erfreuen und dadurch wieder einmal eines der land- und weltläufigen Dikta vollständig zuschanden machen. Christoph hatte ein böses Gewissen, allein lästig fiel es ihm nicht. Ja, wenn er einmal an das Weib seines Freundes dachte, wurde der Himmel über ihm womöglich noch klarer, der Wald grüner, die Sonne sonniger und jeglicher über jeglicher Kneipentür ausgehängte Busch ein doppelt verlockender Wink zur Einkehr.
Ein schöner Sommer! Ein recht schöner heißer Sommer! Wer in den ersten Tagen des Juni auf einer Fußwanderung im Schwabenlande sich befand, der hatte, auch ohne gerade genötigt zu sein, die Qualen eines schlechten Gewissens zu ersäufen, mannigfache Gründe und Anlässe, in jeder zweiten Schenke am Wege einzukehren. Auch das Recht, sich in jeglichem Waldrandesschatten, sei es im Tal, sei es auf der Höhe, in das Gras zu strecken und den Rauch der Zigarre in den Duft des Tannendickichts hineinzublasen, konnte ihm unmöglich abgesprochen werden.
»Nektar vom Fass! Ambrosia aus der freien Faust! Schlürfe und schlucke, mein Sohn, es ist Vorrat genug von beiden vorhanden!« rief Pechle jedes Mal, wenn er den Baron zu sich nieder auf das weiche Moos zog. –
»O Gott, was wird meine Frau sagen?« ächzte der Freiherr jedes Mal, wenn er sich neben dem Reisegenossen steif zusammenklappte, die Arme um die Schienbeine schlang und das Kinn auf die Knie legte.
»Asche auf dein Haupt!« brummte dann wohl der Exstiftler. »Potz Tränenfläschle und Aschenkrügle, jedes Mal, wenn ich dich so dasitzen sehe, tut es mir im tiefsten Herzen weh, dass ich kein Geislinger Holzschnitzer bin. Aber den ersten bildenden Naturkünstler, der uns begegnet, rufe ich an und lasse dich Modell hocken. Die Möglichkeit ist doch noch vorhanden, dass dich deine eben wieder einmal von dir erwähnte Gattin mit einem Sohn beschenkt, und dessen Enkel noch sollen dich als Andenken an die schwäbische Alb von ihren Ausflügen mit nach Sachsen heimbringen und auf ihren Schreibtischen aufstellen.«
»O Christoph!« seufzte der reichsunmittelbare Ferdinand durchaus nicht erheitert durch diese Aussicht, in seiner schönsten Situation auf die Nachwelt zu kommen, und Pechle schloss dann gewöhnlich die Unterhaltung mit einem:
»Na, dann lass uns weiter marschiere, ’s wird mir allmählich o’a’g’nem, hier als ein behaglicher Mensch bei dir zu liege.«
Nimmer vernahmen die königlich württembergischen Dryaden und Hamadryaden so viele Zitate aus