Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Wilhelm Raabe страница 237
Sie packten beide – Herrin und Dienerin. Die letztere in willenloser Überraschung und stupider Hingebung in die Beschlüsse des Fatums; die erstere mit dem tödlich beängstigenden Gefühl, auch hier in München während der ganzen Dauer ihres Aufenthalts den Kapitän Sir Hugh zum Wandnachbar gehabt zu haben. Sie rissen Schubladen auf und schoben Schubladen zu. Sie standen in einem Wellenschlagen vielfarbiger Gewänder aller Art; sie quetschten unaussprechliche Leibwäsche in Hutschachteln und Pariser Hüte in die Reisekoffer. Sie hatten zuletzt beide die Köpfe verloren, und Miss Virginy bekam den ihrigen dadurch, dass ihr ein Dutzend Spitzentaschentücher ins Gesicht geworfen wurde, durchaus nicht wieder. Sie ließen manches zurück, von dem sie sich nachher sonderbarerweise ganz und gar nicht erklären konnten, wo es geblieben war, und es zeugt von einem außergewöhnlich guten Herzen unsrerseits, dass wir jetzt ohne weitere ausmalende Schilderung die Leserin ihres herzklopfenden zitternden Mitgefühls entledigen und das Paar nach ausgeglichener Rechnung auf den Bahnhof befördern. Miss Christabel Eddish fuhr ab von München, ohne an diesem Tage zu Mittag zu speisen, – sie leistete dem Hilfeschrei der sächsischen Freundin in Stuttgart aus mehr als eigenem Antriebe Folge. Sie verzichtete für diesmal vollständig auf Florenz, und sie würde auch ohne das Postskriptum im Briefe ihrer Freundin darauf verzichtet haben. O hätte doch der Poet auf dem Karlsplatze den Zusammenhang zwischen ihrer Stimmung und dem Wurf auf seinen Magen gekannt! Ach, es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt, und was die Verteilung der literarischen Güter anbetrifft, so wird dieselbe wirklich lächerlich willkürlich gehandhabt; denn wie geriete sonst der Faden dieses Zusammenhanges zwischen unsere blöden und ungeschickt tastenden Finger?! Wir schämen uns aber auch selber unseres unverdienten Glückes, und nur die Hoffnung, dass man es in der gewohnten Weise – wie der Alte von der Ilm sagt, sekretiere, hält uns aufrecht auf unserer Fahrt mit Miss Christabel nach der Residenz des Schwabenlandes und weiter durch diese Geschichte.
Das schrille Pfeifen der Lokomotive war nichts gegen die kreischenden Töne, welche die Seele Christabels durchschnitten. Das Gefühl, den Kapitän Sir Hugh Wand an Wand neben sich zu haben, ließ sie auch jetzt nicht los, er musste im nächsten Kupee sitzen; er musste in Augsburg in das Fenster gucken, er musste in Ulm ihr den Pfad zur Bahnhofsrestauration verlegen, und dass er beides nicht tat, war zwar anerkennenswert, aber brachte der aufgeregten Fantasie keine Linderung. Das waren acht qualvolle Stunden, und als bei anbrechender Nacht die britische Jungfrau wohlbehalten in Stuttgart anlangte, befand sie sich vollkommen in der weltbekannten Stimmung Robinson Crusoes, nachdem er die Spuren der menschenfresserischen Karaiben im Sande am Meeresufer entdeckt hatte und, außer sich darüber, einen Tag lang auf seiner Insel im Kreise herumgelaufen war. Erschöpft, betäubt, regungslos lag er dann unter einem Busche, und erschöpft, betäubt und regungslos lag Miss Christabel Eddish in der Stuttgarter Droschke, durch welche sie samt Gepäck und Kammerjungfer der Wohnung der Freundin zugeführt wurde. Wenn es möglich wäre, dass jemand regungs- und bewegungslos aus einem Wagen stiege, so würde sie das vor der Tür des Herrn von Rippgen gleichfalls fertig gebracht haben.
Sie stieg aus. Sie stieg die Treppe hinauf, gefolgt von Virginy und dem das Gepäck nachschleppenden Kutscher. Aus starren Augen sah sie eine Minute lang den Namen des Barons auf dem Metalltäfelchen an der Glastür im Schein der Gasflamme an. Dann zog sie eigenhändig die Glocke. Sie zog sie nicht hastig, nicht ruckartig, sondern sie zog sie wie eine Totenglocke, eine Begräbnisglocke und fuhr trotz ihrer Betäubung zusammen, als das helle Gebimmel ihrer Stimmung durchaus nicht entsprach. Wie die Marquise von Brinvilliers einem langweilig gewordenen Freunde den Giftbecher zu reichen pflegte, so reichte mit öder Gleichgültigkeit Miss Christabel dem Fuhrmann Fahrgeld und Trinkgeld, und dann kam Katharina und öffnete die Glastür.
»O yes!« sagte Miss Christabel Eddish und schritt, ohne weitere Aufklärung über ihre Persönlichkeit, ihre Wünsche und Absichten zu geben, an der erstaunten schwäbischen Jungfrau vorüber. »Ja was denn? mei Frau ischt sehr übel auf!« rief Katharina, von ihrem Erstaunen sich erholend, und mit einem Versuch, den späten Besuch und Einfall zurückzuhalten, sich an Miss Virginy wendend.
»O yes!« sagte Miss Virginy gleichfalls an der schwäbischen Maid vorüberschreitend und ihrer Herrin auf dem Fuße folgend. Katharina, jeden Versuch des Widerstandes nunmehr aufgebend und den Leuchter hoch über das Haupt erhebend, sah beiden nach und gab nur noch eine Warnung mit auf den Weg:
»Sie! da rechts geht es aber auf –« vollendete jedoch ihren Satz nicht. Miss Christabel, durch eingeborensten britischen Instinkt geleitet, wandte sich schon von selber nach links und fand, ohne danach gefragt zu haben, sofort die richtige Tür. In derselben trat ihr Charlotte mit einem anderen Leuchter in der Hand entgegen und vor Überraschung mehrere Schritte zurück.
»Ich bin es!« sprach Christabel. »Wo ist die Lady? Wie geht es ihr?«
Da setzte Charlotte das Licht auf den Tisch inmitten des Salons und deutete tragisch-wortlos auf die Tür wiederum zur Linken, also nicht auf die Tür, welche in das Gemach des Barons führte. Rasch schritt die Engländerin über den blumenbunten Teppich dem deutenden Finger nach, und hinter ihrem Rücken glitt die deutsche Kammerjungfer an die Seite der britischen, schmiegte sich mit einer unbeschreiblich ausdrucksvollen internationalen Ellenbogenbewegung an sie, zog die Augenbrauen herauf, die Nasenflügel herab und den Mund in eine wie zu einem Pfiff gespitzte Spitze, und sagte wieder nichts. Die britannische Maid verstand jedoch den Blick wie das kurze schnelle Kopfnicken ganz ausgezeichnet, schüttelte in ebenfalls stummer Antwort den Kopf und entblößte ein ungemein glänzendes Gebiss! Miss Virginy wagte es, hinter ihrer Herrin drein zu grinsen. Einen echt deutschen Frauenschrei jedoch stieß die Baronin Lucia von Rippgen aus, als ihre seelenvolle Freundin auf der Schwelle ihres Gemaches erschien und einen Augenblick wie zweifelnd stand und umhersah und umherroch.
Miss Christabel Eddish fragte nicht: »O lord, wie riecht es denn hier?« denn sie kannte den Duft und wusste ihn zu