Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Wilhelm Raabe страница 236

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe Gesammelte Werke bei Null Papier

Скачать книгу

auf den Vor­der- und sich er­schöpft auf den Rück­sitz und roll­te die Land­stra­ße hin­ab, die The­re­si­en­wie­se ent­lang dem Send­lin­ger Tore zu.

      Wahr­lich, er­schöpft lag sie auf den stau­bi­gen Pols­tern, das rot­brau­ne Buch auf dem Sit­ze vor sich mit ei­nem wahr­haft gro­tesk-ko­mi­schen Ge­misch von Wi­der­wil­len, Neu­gier, Wut und er­stick­ten Trä­nen im Auge hal­tend. Ehe sie es ei­ner wei­te­ren und nä­he­ren Un­ter­su­chung un­ter­warf, muss­te sie sich noch be­deu­tend mehr an sei­nen An­blick ge­wöh­nen, und so­lan­ge der Wa­gen im Stau­be der Land­stra­ße fuhr, war es ihr nicht mög­lich, das Grau­en so­weit zu über­win­den, um es von neu­em auf­zu­neh­men. Sie ging un­ter in der Be­trach­tung, und erst als sie in das Tor und die Stadt Mün­chen hin­ein­roll­te und sich wie­der von ge­hen­den, rei­ten­den, fah­ren­den und im Not­fall zu Hil­fe zu ru­fen­den mensch­li­chen We­sen um­ge­ben sah, wag­te sie einen wei­tern Schritt ge­gen das sonst so harm­lo­se schrift­stel­le­ri­sche Er­zeug­nis in rot­brau­ner Lein­wand. Sie gab ihm einen Stoß, einen has­tig-hef­ti­gen Stoß mit dem Son­nen­schirm und zeig­te da­bei eine nicht ge­rin­ge Ähn­lich­keit mit ei­nem den ers­ten Schna­bel­hieb auf ein Kro­ko­dil­le­nei füh­ren­den Ibis weib­li­chen Ge­schlech­tes. Und wie der Ibis, wenn er sei­nen Ekel über­wun­den hat, das Ei mit stei­gen­dem Wohl­be­ha­gen aus­schlürft, so durch­blät­ter­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish das Buch, nach­dem sie es, nach dem Stoß, mit spit­zi­gen Fin­gern auf­ge­nom­men hat­te, has­tig, ei­lig und mit im­mer hö­her stei­gen­dem In­ter­es­se.

      Sie blät­ter­te sich mit gan­zer See­le hin­ein, und das war kein Wun­der! Wer wür­de ein von ei­nem Ge­s­penst zwi­schen Tür und An­gel auf der Flucht ver­lo­re­nes Rei­sehand­buch mit geis­ter­haf­ten Rand­glos­sen aus der Nacht­sei­te der Na­tur her­aus, nicht mit zit­tern­der, atem­lo­ser, ateman­hal­ten­der Span­nung durch­blät­tern? Lei­der wahr­schein­lich sehr vie­le un­se­rer bra­ven Lands­ge­nos­sen! Drei Vier­tel der deut­schen Na­ti­on wür­den un­be­dingt ih­ren Fund ge­treu­lich der Po­li­zei über­lie­fern, und es ru­hig ab­war­ten, wie die­se dar­über ver­fü­gen wer­de. Ge­wis­ser­ma­ßen kön­nen wir die­se drei Vier­tel un­se­res Vol­kes auch nur dar­um lo­ben; denn nicht al­les, was ein Geist ver­liert, passt in das in­tel­lek­tu­el­le Ver­ständ­nis des Fin­ders und ist noch we­ni­ger ge­eig­net, im All­ge­mei­nen Be­wusst­sein sich zu ver­brei­ten. Das wäre frei­lich et­was Schö­nes – und ein är­ger­lich Ding für Staat und Kir­che, wenn ein Jeg­li­cher das, was die Geis­ter auf ih­ren We­gen bei Tag und Nacht ver­lie­ren oder gar von sich wer­fen und um sich um­her­streu­en, sich an­eig­nen und ohne Be­wil­li­gung hö­hern Or­tes ru­hig be­hal­ten dürf­te! Ma­len wir uns die­ses ja nicht wei­ter aus, son­dern hal­ten wir uns ru­hig an die alt­her­ge­brach­te und durch die Jahr­tau­sen­de er­prob­te Weis­heit un­se­rer Kon­sis­to­ri­en, me­di­zi­ni­schen und ju­ris­ti­schen Ober­kol­le­gi­en, Hof­thea­ter­in­ten­dan­tu­ren, aka­de­mi­schen Se­na­te und so wei­ter! Das, was Miss Chri­sta­bel Ed­dish in ih­rem Fun­de fand, soll sie je­doch, kraft un­se­rer ei­ge­nen Macht­voll­kom­men­heit, zu ih­rem Nut­zen ru­hig sich an­eig­nen und ver­wen­den dür­fen. –

      Das Buch muss­te für sie ein un­er­mess­li­ches In­ter­es­se ha­ben! Dass der Name Sir Hugh Slid­de­ry auf der ers­ten Sei­te stand, war das Al­ler­we­nigs­te. Aber es be­fan­den sich Blei­stift­no­ti­zen man­nig­fal­tigs­ter Art dar­in, und Miss Chri­sta­bel stieß mehr als ein­mal dar­über ein lei­ses Stöh­nen aus. Die gold­ge­rän­der­ten Vi­si­ten­kar­ten ei­ner Ma­de­moi­sel­le Agla­ja Le­mar­ron und ei­ner Ma­da­me Ar­te­mi­sia Ma­bil­li­noff ließ sie zwi­schen den Blät­tern weg auf den Bo­den der Drosch­ke hin­ab­glei­ten und setz­te auf jede Kar­te ver­ächt­lich einen Fuß.

      Sie blät­ter­te im­mer has­ti­ger, und stieß auf ein lose ein­ge­leg­tes Blatt, wel­ches von ei­ner Rei­se­rou­te han­del­te, und in dem Mur­ray selbst war un­ter dem Ar­ti­kel Flo­renz der Name ei­nes Gast­ho­fes un­ter­stri­chen und die No­tiz an den Rand ge­schrie­ben:

      »Cham­bers be­spo­ken for the 15th Ju­ne«, auf Deutsch: Zim­mer ge­mie­tet für den fünf­zehn­ten Juni.

      Da lag die Schlan­ge zu­sam­men­ge­rin­gelt und reck­te höh­nisch den un­heim­li­chen Kopf em­por und zün­gel­te und wies die Gift­zäh­ne! – In dem näm­li­chen Ho­tel hat­te ganz für die näm­li­che Zeit Chri­sta­bel ihr Ab­stei­ge­quar­tier be­stellt – cham­bers be­spo­ken mit dem Si­gnor Wirt – dicht Wand an Wand mit dem Ka­pi­tän im sie­ben­und­sie­ben­zigs­ten In­fan­te­rie­re­gi­ment, Sir Hugh Slid­de­ry! O, grau­sam durf­te das Schick­sal sein, aber so hin­ter­lis­tig scha­den­froh hä­misch grau­sam zu sein – dazu hat­te es nicht das Recht! – Miss Chri­sta­bel Ed­dish neig­te das Ge­sicht, leg­te das Buch lei­se auf den Sitz vor sich hin. Nach ei­nem Nach­den­ken von zwei Mi­nu­ten er­hob sie das Haupt – blick­te ru­hig und kalt ge­rad­aus, sie wuss­te bis an die äu­ßers­ten Gren­zen des Falls, wie sie dran war, wie sie sich zu ver­hal­ten und was sie zu tun und was sie zu las­sen habe: sie hat­te den Fin­ger Got­tes in dem Zu­sam­men­tref­fen im Haup­te der Ba­va­ria er­kannt! Der Fin­ger Got­tes! Ach, wenn nur nicht zu al­len Zei­ten das Ge­biss des Teu­fels dar­über weg das arme Ge­schlecht der Men­schen an­fletsch­te und so sehr häu­fig das kind­li­che Ver­trau­en in un­glaub­lich kur­z­er Frist tot­grins­te!

      Im nächs­ten Mo­ment schon, nach ei­nem neu­en Blick auf den un­glück­se­li­gen Mur­ray, knirsch­te Chri­sta­bel wie­der ih­rer­seits mit ih­ren Zäh­nen dem bö­sen Fein­de ins Ge­sicht, ächz­te:

      »It is a hor­ror! eine Schan­de ist’s!« fass­te das Buch, als ob es wäh­rend der Zeit ih­res de­mü­tig in einen hö­he­ren Wil­len sich fü­gen­den Nach­den­kens noch viel bos­haf­ter und gif­ti­ger ge­wor­den sei, und schleu­der­te es mit un­be­schreib­li­cher Ener­gie hin­aus aus dem Wa­gen­fens­ter, weit hin­aus auf den Karls­platz und ei­nem den Platz ge­ra­de über­schrei­ten­den, an nichts den­ken­den, deut­schen Poe­ten und Rit­ter des Ma­xi­mi­lians­or­dens ge­ra­de vor den Ma­gen. Der Che­va­lier, fast zu Bo­den ge­streckt durch den voll­kräf­ti­gen Wurf, dreh­te sich drei­mal, den Dich­ter in sich na­tür­lich mit sich her­um­rei­ßend, um sei­ne ei­ge­ne Ach­se, griff mit bei­den Hän­den nach dem Lei­be und starr­te – starr­te – starr­te, bis es zu spät war, die Drosch­ke ein­zu­ho­len und um Auf­klä­rung zu bit­ten. Um die­se Stun­de des Ta­ges war der Karls­platz fast eben­so öde wie die The­re­si­en­wie­se, und nichts stör­te den feucht­äu­gi­gen Ly­ri­ker, Epi­ker oder Dra­ma­ti­ker, oder Ly­ri­sche­pi­schen­dra­ma­ti­ker in sei­nem Nach­sin­nen über das höchst ei­gen­tüm­li­che Be­geb­nis. Noch zehn Mi­nu­ten nach­her stand er denn auch, und zwar nicht in der Stel­lung, in wel­cher er der­mal­einst in Erz ge­gos­sen zu wer­den wünsch­te, und blick­te das rote Buch zu sei­nen Fü­ßen scheu zö­gernd an. Zu­letzt wag­te er es, das Ding auf­zu­he­ben; aber er ging sehr vor­sich­tig da­bei zu Wer­ke – fast eben­so vor­sich­tig wie vor­hin Miss Chri­sta­bel Ed­dish am So­ckel der Ba­va­ria. Ob er es der Po­li­zei ab­lie­fer­te, oder es mit sich nach Hau­se nahm, kön­nen wir nicht sa­gen, sind je­doch nach un­sern vor­hin ein­ge­scho­be­nen Be­mer­kun­gen über ge­fun­de­ne Sa­chen in­nigst über­zeugt, dass er es ab­lie­fer­te, und es erst dann poe­tisch

Скачать книгу