Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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Wahrlich, erschöpft lag sie auf den staubigen Polstern, das rotbraune Buch auf dem Sitze vor sich mit einem wahrhaft grotesk-komischen Gemisch von Widerwillen, Neugier, Wut und erstickten Tränen im Auge haltend. Ehe sie es einer weiteren und näheren Untersuchung unterwarf, musste sie sich noch bedeutend mehr an seinen Anblick gewöhnen, und solange der Wagen im Staube der Landstraße fuhr, war es ihr nicht möglich, das Grauen soweit zu überwinden, um es von neuem aufzunehmen. Sie ging unter in der Betrachtung, und erst als sie in das Tor und die Stadt München hineinrollte und sich wieder von gehenden, reitenden, fahrenden und im Notfall zu Hilfe zu rufenden menschlichen Wesen umgeben sah, wagte sie einen weitern Schritt gegen das sonst so harmlose schriftstellerische Erzeugnis in rotbrauner Leinwand. Sie gab ihm einen Stoß, einen hastig-heftigen Stoß mit dem Sonnenschirm und zeigte dabei eine nicht geringe Ähnlichkeit mit einem den ersten Schnabelhieb auf ein Krokodillenei führenden Ibis weiblichen Geschlechtes. Und wie der Ibis, wenn er seinen Ekel überwunden hat, das Ei mit steigendem Wohlbehagen ausschlürft, so durchblätterte Miss Christabel Eddish das Buch, nachdem sie es, nach dem Stoß, mit spitzigen Fingern aufgenommen hatte, hastig, eilig und mit immer höher steigendem Interesse.
Sie blätterte sich mit ganzer Seele hinein, und das war kein Wunder! Wer würde ein von einem Gespenst zwischen Tür und Angel auf der Flucht verlorenes Reisehandbuch mit geisterhaften Randglossen aus der Nachtseite der Natur heraus, nicht mit zitternder, atemloser, atemanhaltender Spannung durchblättern? Leider wahrscheinlich sehr viele unserer braven Landsgenossen! Drei Viertel der deutschen Nation würden unbedingt ihren Fund getreulich der Polizei überliefern, und es ruhig abwarten, wie diese darüber verfügen werde. Gewissermaßen können wir diese drei Viertel unseres Volkes auch nur darum loben; denn nicht alles, was ein Geist verliert, passt in das intellektuelle Verständnis des Finders und ist noch weniger geeignet, im Allgemeinen Bewusstsein sich zu verbreiten. Das wäre freilich etwas Schönes – und ein ärgerlich Ding für Staat und Kirche, wenn ein Jeglicher das, was die Geister auf ihren Wegen bei Tag und Nacht verlieren oder gar von sich werfen und um sich umherstreuen, sich aneignen und ohne Bewilligung höhern Ortes ruhig behalten dürfte! Malen wir uns dieses ja nicht weiter aus, sondern halten wir uns ruhig an die althergebrachte und durch die Jahrtausende erprobte Weisheit unserer Konsistorien, medizinischen und juristischen Oberkollegien, Hoftheaterintendanturen, akademischen Senate und so weiter! Das, was Miss Christabel Eddish in ihrem Funde fand, soll sie jedoch, kraft unserer eigenen Machtvollkommenheit, zu ihrem Nutzen ruhig sich aneignen und verwenden dürfen. –
Das Buch musste für sie ein unermessliches Interesse haben! Dass der Name Sir Hugh Sliddery auf der ersten Seite stand, war das Allerwenigste. Aber es befanden sich Bleistiftnotizen mannigfaltigster Art darin, und Miss Christabel stieß mehr als einmal darüber ein leises Stöhnen aus. Die goldgeränderten Visitenkarten einer Mademoiselle Aglaja Lemarron und einer Madame Artemisia Mabillinoff ließ sie zwischen den Blättern weg auf den Boden der Droschke hinabgleiten und setzte auf jede Karte verächtlich einen Fuß.
Sie blätterte immer hastiger, und stieß auf ein lose eingelegtes Blatt, welches von einer Reiseroute handelte, und in dem Murray selbst war unter dem Artikel Florenz der Name eines Gasthofes unterstrichen und die Notiz an den Rand geschrieben:
»Chambers bespoken for the 15th June«, auf Deutsch: Zimmer gemietet für den fünfzehnten Juni.
Da lag die Schlange zusammengeringelt und reckte höhnisch den unheimlichen Kopf empor und züngelte und wies die Giftzähne! – In dem nämlichen Hotel hatte ganz für die nämliche Zeit Christabel ihr Absteigequartier bestellt – chambers bespoken mit dem Signor Wirt – dicht Wand an Wand mit dem Kapitän im siebenundsiebenzigsten Infanterieregiment, Sir Hugh Sliddery! O, grausam durfte das Schicksal sein, aber so hinterlistig schadenfroh hämisch grausam zu sein – dazu hatte es nicht das Recht! – Miss Christabel Eddish neigte das Gesicht, legte das Buch leise auf den Sitz vor sich hin. Nach einem Nachdenken von zwei Minuten erhob sie das Haupt – blickte ruhig und kalt geradaus, sie wusste bis an die äußersten Grenzen des Falls, wie sie dran war, wie sie sich zu verhalten und was sie zu tun und was sie zu lassen habe: sie hatte den Finger Gottes in dem Zusammentreffen im Haupte der Bavaria erkannt! Der Finger Gottes! Ach, wenn nur nicht zu allen Zeiten das Gebiss des Teufels darüber weg das arme Geschlecht der Menschen anfletschte und so sehr häufig das kindliche Vertrauen in unglaublich kurzer Frist totgrinste!
Im nächsten Moment schon, nach einem neuen Blick auf den unglückseligen Murray, knirschte Christabel wieder ihrerseits mit ihren Zähnen dem bösen Feinde ins Gesicht, ächzte:
»It is a horror! eine Schande ist’s!« fasste das Buch, als ob es während der Zeit ihres demütig in einen höheren Willen sich fügenden Nachdenkens noch viel boshafter und giftiger geworden sei, und schleuderte es mit unbeschreiblicher Energie hinaus aus dem Wagenfenster, weit hinaus auf den Karlsplatz und einem den Platz gerade überschreitenden, an nichts denkenden, deutschen Poeten und Ritter des Maximiliansordens gerade vor den Magen. Der Chevalier, fast zu Boden gestreckt durch den vollkräftigen Wurf, drehte sich dreimal, den Dichter in sich natürlich mit sich herumreißend, um seine eigene Achse, griff mit beiden Händen nach dem Leibe und starrte – starrte – starrte, bis es zu spät war, die Droschke einzuholen und um Aufklärung zu bitten. Um diese Stunde des Tages war der Karlsplatz fast ebenso öde wie die Theresienwiese, und nichts störte den feuchtäugigen Lyriker, Epiker oder Dramatiker, oder Lyrischepischendramatiker in seinem Nachsinnen über das höchst eigentümliche Begebnis. Noch zehn Minuten nachher stand er denn auch, und zwar nicht in der Stellung, in welcher er dermaleinst in Erz gegossen zu werden wünschte, und blickte das rote Buch zu seinen Füßen scheu zögernd an. Zuletzt wagte er es, das Ding aufzuheben; aber er ging sehr vorsichtig dabei zu Werke – fast ebenso vorsichtig wie vorhin Miss Christabel Eddish am Sockel der Bavaria. Ob er es der Polizei ablieferte, oder es mit sich nach Hause nahm, können wir nicht sagen, sind jedoch nach unsern vorhin eingeschobenen Bemerkungen über gefundene Sachen innigst überzeugt, dass er es ablieferte, und es erst dann poetisch