ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar

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ALICE IM TOTENLAND - Mainak  Dhar Alice im Totenland

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      Sie war viel zu verstört, um Widerstand zu leisten, oder zu fragen, wohin man sie überhaupt brachte.

      Und so wurde Alice noch tiefer in den Bau der Biter gebracht.

      Sie liefen eine geraume Zeit schweigend durch die Dunkelheit, und Alice tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie bereits tot wäre, wenn die Biter das gewollt hätten. Doch sie wollten sie ganz offensichtlich lebend haben, aber wofür, blieb ihr ein Rätsel. Dann begann ein leichter Anstieg, und während die Biter den Weg zu kennen schienen und an die Dunkelheit gewöhnt waren, stolperte Alice mehr schlecht als recht dahin. Schließlich kamen sie um eine Biegung, und Hände hielten Alice zurück, so als sollte sie warten. Vor ihnen befand sich ein schmaler Lichtschein, der größer wurde, als eine Tür nach draußen aufgestoßen wurde. Beim Näherkommen sah Alice, dass es keine richtige Tür war, sondern Äste und Zweige, die nun, da sie den Tunnel verlassen hatten, wieder in Position gebracht wurden.

      Nach der langen Zeit im Dunkeln schmerzte das grelle Sonnenlicht in ihren Augen. Blinzelnd sah Alice sich um und merkte, dass sie sich nun im einst so geschäftigten Zentrum von Neu-Delhi befanden. Außer Trümmern war von dem Glanz vergangener Tage nicht viel geblieben, aber Alice erkannte in den Ruinen die Überreste eines Gebäudes, dass früher einmal ein Denkmal namens India Gate gewesen war. Die Erwachsenen hatten davon erzählt, selbst betreten hatte sie dieses Gebiet aber nie, da die Stadt fest in Hand der Biter war und deshalb gemieden wurde. Und das aus gutem Grund. Überall liefen kleine und größere Gruppen von Bitern umher, und als die ersten sie erblickten, setzten sie sich sofort in Bewegung. Hasenohr stieß einen von ihnen beiseite und knurrte die anderen warnend an. Alice konnte nicht wirklich verstehen, was er sagte, aber mehrmals fiel ihr Name und zeigte Wirkung bei den Bitern. Sofort zogen sie sich zurück, so als hätten sie Angst vor ihr, und eskortierten sie zu ihrem unbekannten Ziel.

      Alice versuchte unterbewusst, nur flach zu atmen. Das Große Feuer lag schon viele Jahre zurück, aber niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wie viel radioaktive Strahlung noch zurückgeblieben war. Als Alice zum ersten Mal die Geschichten über das Große Feuer und die furchtbaren Waffen jener Zeit hörte, hatte sie sich laut gefragt, wie viel von dem Wesen der Biter aus dem nuklearen Fallout resultierte und wie viel von dem herrührte, was der Auslöser für den Ausbruch gewesen war. Niemand schien darauf eine Antwort zu haben.

      Die meisten der Atombomben hatte man in der Luft gezündet, um die Biter einzuäschern, den Boden aber so gut wie möglich frei von Strahlung zu halten, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob das funktioniert hatte.

      Ihr Vater hielt damals allem Anschein nach eine Führungsposition in der Botschaft inne, doch alles ging so schnell, dass selbst er nicht sagen konnte, wie es sich in den letzten Tagen zugetragen hatte.

      Sie hielten auf etwas zu, dass wie eine Öffnung im Boden aussah. Die Gerüchte über eine unterirdische Basis waren also noch untertrieben. Statt einer einzigen Anlage schienen die Biter über ein komplexes Netzwerk aus unterirdischen Tunneln und Stützpunkten zu verfügen. Alice versuchte, sich so viel wie möglich davon einzuprägen, um bei ihrer Rückkehr anderen mit dem Wissen helfen zu können. Der Gedanke daran, es wirklich wieder nach Hause zu schaffen, lenkte sie von der wachsenden Angst vor dem ab, was an ihrem Ziel auf sie warten würde.

      Ein dumpfes, wummerndes Geräusch am Horizont ließ sie erstarren. Sie hatte ähnliche Geräusche schon gehört, und früher waren es immer höchst ungute Vorzeichen gewesen. Doch heute konnte es ihre Rettung bedeuten. Hasenohr schob sie hinter die Trümmer einer Ruine, und dort versteckten sie sich vor den drei schwarzen Helikoptern, die in Sicht kamen. Als sie näher heranflogen, sah Alice, dass sich die meisten der Biter ebenfalls in Deckung begeben hatten – die meisten, aber nicht alle. Zwei Biter irrten verzweifelt umher und suchten Schutz. An einem der Helikopter glitt eine Tür auf, und zwei Männer mit Scharfschützengewehren an die Schultern gepresst lehnten sich heraus. Zwei Schüsse ertönten. Beide Biter sackten mit zerplatzten Köpfen zu Boden.

      Auf einmal sah Alice die rund um sie herum in Deckung kauernden Biter in einem völlig neuen Licht. Sie war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es tollwütige, bösartige Kreaturen waren, die vernichtet werden mussten, weil deren einziger Lebensinhalt darin zu bestehen schien, die Menschheit zu vernichten. Aber Hasenohr und die anderen wirkten überaus verängstigt. Ihre ehemals menschliche Intelligenz mochte ihnen abhandengekommen sein, aber in diesem Moment erinnerten sie eher an ein Rudel verschreckter Tiere als an bösartige, gnadenlose Tötungsmaschinen. Einige von ihnen zitterten sogar, als die Hubschrauber ihre Flughöhe verringerten.

      Alice erkannte das Zeichen mit dem goldenen Dreizack und dem Blitz an den Seiten der Helikopter, und wusste, welche Gruppe es repräsentierte: ZEUS.

      Manchmal hatte sie gehört, wie ihr Vater von privaten Militärfirmen erzählte und wie diese in dem Chaos vor dem Ausbruch an Macht und Einfluss gewannen. Vieles von dem, was sich die Erwachsenen erzählten, blieb für sie unverständlich, aber sie wusste, dass ZEUS die Mächtigste dieser neuen Armeen war und dass sie nach dem Zusammenbruch der Regierungen und dem Ausbruch noch an Macht dazu gewonnen hatte. Niemand wusste, wem sie unterstand, aber sie war die einzige sichtbar durchorganisierte und gut bewaffnete Armee da draußen. Alle paar Monate statteten sie den unabhängigen Siedlungen wie jener, in der Alice wohnte, einen Besuch ab, fragten nach Freiwilligen, die sich ihnen anschließen sollten, oder versuchten, die Siedler dazu zu zwingen, sich dem Zentralkomitee zu unterwerfen. Die Gründer dieses Zentralkomitees waren unbekannt, aber jene Leute kontrollierten ZEUS. Und jeder im Totenland wusste: Wer einmal deren Regeln akzeptierte, verlor damit seine Freiheit.

      Alice hatte Glück, in einer Ortschaft aufzuwachsen, die ihr Vater und die verbliebenen Truppen der zum Schutz der amerikanischen Botschaft in Neu-Delhi abkommandierten US-Marines gegründet hatten. Während andere Ortschaften des Totenlandes in den ersten Jahren nach dem Ausbruch eine leichte Beute für Plünderer und Biter darstellten, hatte ihre Siedlung erfolgreich Angriff um Angriff zurückschlagen können und sich so einen gewissen Ruf erworben. Mit ihnen war nicht zu spaßen. Trotzdem fühlte sich Alice stets unwohl, wenn ZEUS-Soldaten in ihren Ort kamen. Sie war hauptsächlich mit Berufssoldaten aufgewachsen oder Menschen wie ihrem Vater, die für die Sicherheit ihrer Familien kämpften. Die Trupps von ZEUS hingegen waren Söldner, und zeigten wenig Mitgefühl für die Menschen im Totenland. Wenn man sich ihnen nicht anschloss, überließen sie einen dem eigenen Schicksal, selbst wenn man von Bitern überrannt wurde.

      Von den Scharfschützen gedeckt seilten sich nun komplett in Schwarz gekleidete Männer ab und schwärmten aus. Alice wusste nur zu gut, welchen Ruf ZEUS hatte, aber im Moment blieben ihr nicht viele Möglichkeiten. Sie konnte sich entweder den Bitern als Gefangene einem ungewissen Schicksal ausliefern oder die Chance ergreifen, wieder nach Hause zu kommen, auch wenn das bedeutete, dass sie sich den Soldaten von ZEUS anvertrauen musste. Die Entscheidung lag auf der Hand.

      Sie wartete, dass die Soldaten näherkamen, denn sie wusste, dass Hasenohr und seine Freunde sie sicher umbringen würden, wenn sie sich zu früh bemerkbar machte. Sie wartete auf den geeigneten Moment, doch dann bot sich ohne ihr eigenes Zutun eine Gelegenheit.

      Ein weiblicher Biter in ihrer Nähe verlor die Nerven und rannte wild schreiend aus der Deckung. Zwei der ZEUS-Soldaten legten knieend ihre vollautomatischen Waffen auf sie an und schossen. Die Untote zuckte im Kreuzfeuer wie eine Marionette hin und her, bevor sie umkippte. Sie versuchte sich aufzurappeln, doch der Scharfschütze an Bord des Helikopters blies ihr mit einem Schuss den Kopf weg. Ein anderer Biter rannte auf die Tore zu, die in den Untergrund führten, und wurde von mehreren Schüssen durchsiebt. Den endgültigen Treffer übernahm wieder der Scharfschütze.

      Alice sah das alles mit an und erkannte, dass es kein Kampf mehr war, sondern ein Massaker.

      Hasenohr und die anderen hatten sich zusammengekauert, so als ob sie beraten würden, was nun zu tun sei. Da ergriff sie die Gelegenheit. Sie trat aus der Deckung,

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