ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar
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Читать онлайн книгу ALICE IM TOTENLAND - Mainak Dhar страница 8
Die Königin stand nun vor Alice, das Päckchen vor sich in den Händen.
»Weißt du, was das ist?«
Natürlich hatte Alice keine Ahnung. Außerdem war sie zu jung, um zu wissen, was eine rhetorische Frage war, also schüttelte sie den Kopf. Ihre Reaktion war aber unnötig, denn die Königin befand sich bereits in einem tranceartigen Zustand und redete unaufhörlich weiter.
»Als die wahnsinnigen Menschen das Feuer herabregnen ließen, habe ich mich in der Kanalisation und den alten Luftschutzbunkern versteckt. Bin von einem Tunnel zum nächsten gegangen. Hast du eine Ahnung, wie lange ich da unten war?«
Eine weitere rhetorische Frage.
»Ich versuchte, mein Telefon so lange am Leben zu halten wie nur irgend möglich. Jeden Tag schaltete ich es nur für ein paar Sekunden an, um zu sehen, welcher Tag war und wie viel Uhr. Als es den Geist aufgab, waren es drei Monate. In der Zeit bin ich sieben Mal gebissen worden.«
Die Königin legte das Päckchen auf dem Sofa neben Alice ab und das Mädchen sah erneut das blutige, geschundene Fleisch ihrer Hände. Wieder wunderte sich Alice, wie sich die Königin ihre Menschlichkeit bewahren konnte, wenn sie doch so offensichtlich von Bitern gebissen worden war. Sie erschauderte bei der Vorstellung, wie furchtbar es gewesen sein musste, allein durch diese Tunnel zu irren, in völliger Dunkelheit, umgeben von wilden Bitern und ohne Essen und Trinken. Unter solchen Umständen hätte jeder den Verstand verloren.
Die Königin fuhr fort: »Wenn ich nur ein einfacher Mensch gewesen wäre, hätte ich aufgegeben und mich umgebracht, aber wie du sehen kannst, veränderte ich mich zu etwas Neuem. Ich hatte kaum etwas zu Essen, also suchte ich nach Kräutern und Blättern. Und eines Tages fand ich das da.« Sie deutete auf das Päckchen. »Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was ich damit anfangen sollte, aber als ich zurück an die Oberfläche kam und sah, was aus der Welt geworden war, begriff ich, dass es womöglich das letzte verbliebene Buch im Totenland war.«
Die Königin machte eine Pause. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch, holte ein paar grüne Blätter hervor und kaute auf ihnen herum. Alice hörte, wie Hasenohr in freudiger Erwartung grunzte, und die Königin warf ihm ein paar der Blätter zu, die er gierig verschlang. Alice erkannte die Blätter als Ganja, wie man Marihuana in Indien nannte, und erinnerte sich an die Warnungen der Älteren, nie davon zu essen. Wenn diese Frau, dieser Biter oder was immer die Königin auch sein mochte sich seit Monaten von Ganja-Blättern ernährte, dann erklärte das zumindest, woher die Halluzinationen kamen, denen sie sich offensichtlich hingab. Während Alice ihre Schlüsse zog, wickelte die Königin das Päckchen auseinander und hielt Alice dessen Inhalt entgegen.
»Das ist die Prophezeiung, die mir das letzte Buch des Totenlandes gezeigt hat. Die Vision, dass du eines Tages kommen und uns zum Sieg führen wirst.«
Alice sah, dass die Königin ein leicht verkohltes Buch in den Händen hielt. Der Einband zeigte ein blondes Mädchen, dass hinter einem Hasen in ein Loch sprang, und Alice erkannte, dass diese Abbildung die Zeichnung inspiriert haben musste, die sie gesehen hatte. Und es erklärte, warum alle so aufgeregt waren, sie gefunden zu haben. Sie konnte nicht sofort alle Worte auf dem Umschlag entziffern, aber sie erkannte ihren Namen. Die Königin wirkte ein wenig enttäuscht, dass Alice das Buch nicht bekannt vorkam, aber sie wusste auch nicht, dass Alice in ihrem Leben noch kein einziges Buch gelesen hatte, und daher die Geschichte nicht kennen konnte.
Alice im Wunderland.
Hunderte von Bitern hatten sich in der großen unterirdischen Halle versammelt und knieten vor ihrer Königin. Sie alle hatten ein unablässiges, anschwellendes Heulen und Kreischen angestimmt, bei dem sich Alice am Liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber Hasenohr hielt ihre Arme hinter ihrem Rücken fest.
Die Königin wandte sich an ihr Volk: »Seht sie euch an! Die Prophezeiung ist wahr! Sie wird uns zum Sieg führen uns für immer aus der Unterdrückung und den Grausamkeiten der bösen Menschen befreien. Sie wollten nicht mit uns zusammenleben, aber nun haben wir die Chance, ihnen begreiflich zu machen, dass sie uns akzeptieren müssen und wir Seite an Seite mit ihnen leben werden, oder wir einen letzten großen Krieg entfachen werden, um ihnen klarzumachen, dass wir künftig die vorherrschende Spezies auf diesem Planeten sein werden!«
Die Biter mochten außerstande sein, in einer menschlichen Sprache zu sprechen, aber sie schienen die Königin sehr gut zu verstehen, und es dauerte nicht lange, bis alle in einen Freudentaumel verfielen. Je mehr Alice sah, umso mehr erinnerten sie die Biter an wilde Tiere, und die Königin beendete ihre Rede, indem sie ihnen zurief, sich für ihre Mission um Mitternacht vorzubereiten.
Sie brachten Alice zurück in den kleinen Raum, der genau genommen ihre Gefängniszelle war. Die Königin erwartete, dass sie ihre Armeen zum Sieg führte, aber wie das genau funktionieren sollte, war ihr schleierhaft. Was konnte ein junges Mädchen schon groß bewirken? Außerdem hatte Alice keinerlei Interesse daran, irgendeine Rolle in den ausgedachten Prophezeiungen der wahnsinnigen Königin zu spielen. Sie konnte nur abwarten, auf eine Chance zur Flucht hoffen, und in der Zwischenzeit schien es die beste Strategie zu sein, mitzuspielen. Ihre Chance kam früher als gedacht, denn später am Abend rief die Königin sie zu sich.
»Alice, sie sehen mich als ihre Anführerin, aber ich war schon eine alte Frau, bevor ich mich verwandelte. Ich mag gewisse Talente haben, aber die Fähigkeit zu kämpfen und Schlachten zu führen, gehört nicht dazu. Du bist diejenige, die die Führung übernehmen und unseren Kampf fortsetzen muss.«
Alice hielt es nicht länger aus, und so platzte es aus ihr heraus. »Welcher Kampf? Warum lasst ihr die Menschen nicht einfach in Ruhe? Was haben wir dir getan, dass du uns diese Kreaturen auf den Hals hetzt?«
Die Königin setzte sich. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln, doch ihre Augen waren so leblos wie immer. »Ich gebe dir nicht die Schuld dafür, zu glauben, was du für richtig hältst. Du bist damit groß geworden, nur die eine Seite der Geschichte kennenzulernen. Und wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann wie effektiv und mächtig doch Propaganda sein kann.«
Sie sah die Skepsis in Alices Augen und fuhr fort. »Ich werde nicht den Versuch unternehmen, dich zu überzeugen, denn mein Wort hat bei dir kein Gewicht. Deshalb wirst du es mit eigenen Augen sehen.«
Sie nickte, und Hasenohr packte Alice am Arm und führte sie aus dem Raum. Durch ein paar verschlungene Gänge hindurch zog er sie mehr, als dass er sie führte, und dann war sie plötzlich wieder an der Oberfläche. Draußen wurde es bereits dunkel, und um sie herum war dichter Wald. Sie erspähte ein kaputtes Schild und erkannte die Symbole darauf. In ihrem Training hatte man sie mit den Landschaften in der näheren Umgebung bekannt gemacht. Sie befanden sich in der Nähe des Yamunas, eines Flusses, oder was früher einmal ein Fluss gewesen war. Nachdem die nuklearen Feuersbrünste und die anschließenden Kämpfe die Dämme zerstört hatten, war er nur noch ein ausgetrocknetes Rinnsal. Um sich herum nahm sie Bewegungen wahr und sah, dass sich wenigstens ein Dutzend weitere Biter zwischen den Bäumen versteckten.
Nachdem sie mehr als eine Stunde gewartet hatten, drehte sie sich zu Hasenohr um und fragte ihn, weshalb man sie hierher gebracht hatte, doch er grunzte nur, als wolle er ihr sagen, dass sie die Klappe halten und warten soll. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Eine große Gruppe