Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
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Harst fand keine Tränen. Jetzt nicht mehr, denn erst allmählich war er sich über die ganze Größe seines Verlustes klar geworden. Marga war die restlose Ergänzung seines eigenen Ichs gewesen. Mit ihr war jedes Interesse am Leben, an der Zukunft in ihm gestorben. –
Die Tage gingen hin. Marga Milden war längst beerdigt; der Mörder aber noch immer unentdeckt. So ungeheures Aufsehen dieses Verbrechen auch zunächst in der Reichshauptstadt erregt hatte, – nur zu bald drängte es der stetig neue Sensationen erzeugende Pulsschlag der Millionenstadt immer mehr in den Hintergrund. Trotzdem blieb der Eifer der Polizei und verschiedener Privatdetektive, die freiwillig der hohen Belohnung wegen sich der Sache angenommen hatten, noch eine Weile der gleiche. Doch: jedes Streben muß früher oder später erlahmen, wenn es auch nicht von dem geringsten Erfolg gekrönt wird. Und so war es hier. Nirgends der kleinste Hinweis auf den Täter, nirgends die Möglichkeit, ein Motiv für diese Ermordung eines jungen, harmlosen Weibes zu finden!
Harald Harsts Gemütszustand änderte sich nicht. Er hatte sich sofort auf längere Zeit von seiner Behörde beurlauben lassen, wollte später seinen Abschied einreichen und auf Reisen gehen. Die abwechselnden Eindrücke fremder Länder und Völker sollten ihm helfen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Auguste hatte ihm dies geraten. Sie verzehrte sich in Sorge um den Sohn, der in stumpfem Brüten die Tage verbrachte und sich ganz von der Außenwelt abschloß. Sie hatte mit Kommissar Stolten hierüber gesprochen. Und dieser hatte ihr erklärt, er hätte gehofft, daß bei dem Herrn Assessor die Anregung, die er ihm gleich am Tage des Mordes durch den Hinweis auf die Vergeltung gegeben, etwas länger wirken und ihn veranlassen würde, selbst sich mit Ermittlungen zur Aufklärung des Verbrechens zu beschäftigen und auf diese Weise wohltuend seine schmerzlichen Gedanken abzulenken. »Freilich,« hatte er hinzugefügt, »wo soll man in diesem Falle mit Ermittlungen beginnen?! Man muß doch wenigstens einen Ausgangspunkt dafür haben. Hier gibt es keinen.« – Frau Harst nickte traurig. »Das hat mir mein Sohn auch gesagt, Herr Kommissar. – Mutter, hat er zu mir gesagt, wenn ich irgendwo auch nur den Schimmer einer Spur sehen würde, die zu dem Mörder hinführen könnte, dann sollte die Welt es erleben, daß der Wunsch nach Vergeltung den Täter in meine Gewalt bringt! Doch – selbst dieser Schimmer einer Spur fehlt! Ich kann doch nicht zwecklos durch die Straßen laufen und auf einen blinden Zufall hoffen, der mich den Anfang einer Fährte entdecken läßt! – Solche Zufälle sind doch zu selten.« –
Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne daß in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.
Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.
Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte. »So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor,« erklärte sie. »Es ist son Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der häßliche rosa und hellblau gestreifte Rand!« Sie nahm es und faltete es auseinander.
»Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur –« Sie stockte plötzlich und wurde rot und verlegen.
Harst wurde jetzt mit einem Schlage ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlußfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wach gerüttelt. Und des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, daß er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.
Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, daß er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, daß jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. – Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, daß sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgend etwas wüßte, war aber auch ebenso überzeugt, daß sie aus irgend welchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte. – »Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel,« meinte er gleichgültig. »Sie haben ganz recht, Helene, – es ist billigste Schundware. – Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Hause gehabt. Der mag es dann gehören.«
Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wußte, daß das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. – Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: »Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?« – Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, daß Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: »Sie lügen ja!« – Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: »Schließlich ist das ja auch gleichgültig.« Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.
Nachher nahm er ein Auto und fuhr nach dem Laboratorium des Gerichtschemiker Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen. Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter:
»Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, daß ich vermute, es muß feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.«
Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: »Herr Assessor – einen Augenblick.«
Harst