Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
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Bereits zu Lebzeiten der Mutter hatte Humboldt geäußert, er werde 1797 eine größere Reise antreten. Anschließend an die Fahrten in Oberitalien und der Schweiz 1795 wollte er nach Schweden1, Griechenland2 oder Ungarn3 gehen. Er warb bereits um die Teilnahme seines Freiberger Freundes Johann Karl Freiesleben. Als ferneres Ziel schwebte ihm Sibirien, gewiss im Anschluss an die Forschungen der Gmeline und Pallas, vor.4 Da er seine Pläne verheimlichte, war zu erwarten, dass er sich nach dem Tode der Mutter klarer über sein Vorhaben aussprechen würde. Die genannten Ziele sollten ohnehin nur mit kleineren Unternehmungen erreicht werden, die vor allem botanischen Untersuchungen dienen sollten. Ein größeres Programm bedeutete Sibirien.
Aus all dem geht eines sehr deutlich hervor: Humboldt strebte nach eigenem Bekenntnis eine Landreise an. Deutschland war keine Seemacht. Auf einem Schiff unter fremder Flagge konnte er nur die Randerscheinung einer größeren Expedition abgeben. Oder gab es doch andere Möglichkeiten? Konnte er denn überhaupt daran denken, eine eigene Expedition zu verwirklichen? Alle bisherigen deutschen Forschungsreisenden waren von Geldgebern oder politischen Interessen ausländischer Mächte abhängig gewesen. In der Tat ging es den anderen Nationen, die Expeditionen aussandten, bei aller Pflege der Wissenschaft auch immer um die Erkundung wichtiger Gebiete, die besetzt oder dem Handel geöffnet werden sollten. Wenn Deutsche in fremdem Dienst reisten, ging es ihnen selbst ausschließlich um wissenschaftliche Aufgaben, weil sie keinen mächtigen eigenen Nationalstaat vertraten. So wird es verständlich, dass die englische African Association immer stärker deutsche Reisende unterstützte und die russischen Zaren sich über Größe und Wert ihres Riesenstaates von Deutschen aufklären ließen. Damit hatten die Deutschen – wie ihre Klassiker im Literarischen – aus der Not eine Tugend gemacht und im Forschungsreisenden, der nach wissenschaftlichen Zielen strebte, eine bis heute verpflichtende Gestalt geschaffen. Immerhin schloss diese Entwicklung einen großen Mangel ein. Obgleich die Deutschen aufgrund ihrer ausgebildeteren Geographie der Welt in Carsten Niebuhr den ersten Forschungsreisenden schenkten, gab es keinen einzigen großen selbständigen deutschen Reisenden, der lediglich eigenen Intentionen folgen und aus dem Vollen schöpfen konnte. Niebuhr musste dänische Wünsche beachten, was – gerade in diesem Fall – natürlich in keiner Weise das Mäzenatentum Friedrichs V. schmälerte. Johann Reinhold Forster durfte wohl an der zweiten Reise Cooks teilnehmen, aber nicht über sie berichten.5 Würde es bei Humboldt anders sein?
2. HUMBOLDTS REISEZIEL »WESTINDIEN«: DIE TROPEN DER NEUEN WELT
Sechsjährige Vorbereitung
Über seine Reisepläne und -ziele hat Humboldt nie den geringsten Zweifel gelassen: Tropensehnsucht kannte er seit frühester Jugend. Seit dem 18. Jahr, seit 1787, hatten seine Reisepläne eine bestimmte Richtung infolge des Einflusses des Pflanzensammelns, des Studiums der Geologie, der Reisen nach Holland, England, Frankreich und der Schweiz und nicht zuletzt Georg Forsters angenommen. Jetzt war es nicht mehr das Verlangen nach einem umherschweifenden Leben, sondern es ging um wissenschaftliche Arbeit in den Tropen. »Da meine persönliche Lage mir damals nicht erlaubte, die Pläne auszuführen, die meinen Geist so lebhaft beschäftigten, so hatte ich die Muße, mich während sechs Jahren zu den Beobachtungen vorzubereiten, die ich im Neuen Continent machen sollte« (Relation historique, I, S. 40 f. Hervorhebung von HANNO BECK).
Sechs Jahre hat sich Humboldt auf seine Forschungsreise vorbereitet, und so finden wir denn auch in einem wichtigen Brief vom Juli 1793 einen eindeutigen Hinweis: »Ich bereite mich ohne Unterlaß auf ein großes Ziel vor« – es ist seine Reise in die Tropen der Neuen Welt. Wie bei seinen Forschungsprogrammen sprach er nicht mit jedem darüber. Bei aller Quecksilbrigkeit seines Wesens hat er seinen Mund oft nur zu gut halten können, wie jeder bemerken kann, der sich mit ihm beschäftigt. Zu Wladimir JureviĀ Sojmonov, seinem Freiberger Kommilitonen, sprach er nur deshalb darüber, weil er seine Einladung, schon jetzt nach Russland zu reisen, zunächst abschlagen musste, eben wegen seines »großen Zieles« (Jugendbriefe, S. 255).
Nach dem Tode seiner Mutter im November 1796 verfügte er über beträchtliche finanzielle Mittel. Damit eröffneten sich einem deutschen Privatmann für längst entwickelte Reisepläne vorher nie gekannte Möglichkeiten. Folgerichtig quittierte er bereits einen Monat später, im Dezember 1796, seinen Dienst, zumal ihn Staat und Bürokratie oft verletzt hatten. Er äußerte sich offen, er werde sich nunmehr »ernsthaft« auf eine Reise außerhalb Europas vorbereiten. Ein weiterer Anstoß kam hinzu:
Am 22. Oktober 1796 ließen sich zwei Brüder, Johan Matthias Friedrich und Johan Christian Keutsch, an der Universität Jena einschreiben.6 Sie kamen aus Bern, wo Humboldt sie vielleicht schon 1795 kennengelernt hatte, und studierten Medizin. Humboldt muss ihnen – von der ersten fraglichen Zusammenkunft in der Schweiz abgesehen – kurz nach ihrer Ankunft in Jena begegnet sein, vielleicht während der Hin- und Herreise nach Berlin beim Tode seiner Mutter oder bei einem gelegentlichen Besuch. Die Brüder Keutsch stammten aus St. Thomas, einer Insel der dänischen Jungferngruppe in Westindien.7 Humboldt verkehrte oft mit ihnen. Die Gedanken, die ihm während ihres häufigen Zusammenseins kamen, erfahren wir aus einem Brief, den er am 20. Dezember 1796 noch von Bayreuth an Willdenow richtete. Alexander erwähnte seine literarischen Pläne, auch sein selbstkonstruiertes »ganz unzerbrechliches Senkbarometer«, das er bereits im November 1796, vermutlich im Fichtelgebirge, überprüft hatte8, und schrieb dann: »Mache nur, daß das gute Pathchen schnell heranwachse9, damit ich es nach Indien mitnehmen kann. Meine Reise ist unerschütterlich gewiß. Ich präparire mich noch einige Jahre und sammle Instrumente, ein bis anderthalb Jahr bleibe ich in Italien, um mich mit Vulkanen genau bekannt zu machen, dann geht es über Paris nach England, wo ich leicht auch wieder ein Jahr bleiben könnte (denn ich eile schlechterdings nicht, um recht präparirt anzukommen), und dann mit englischem Schiffe nach Westindien. Erlebe ich das Ende dieser Pläne nicht, nun so habe ich wenigstens thätig begonnen und die Lage benutzt, in die mich glückliche Verhältnisse gesetzt haben …«
Westindien war das erklärte Reiseziel, dem seit 1793 seine Vorbereitungen gelten sollten. Wie ernst Alexander die vorbereitenden Aufgaben nahm, geht zudem aus seinen Zeilen eindeutig hervor. Man verstand damals unter Westindien nicht nur die Inselwelt des Karibischen Meeres, sondern die Tropen der Neuen Welt. Der Begriff Westindien hatte sogar einstmals die Gesamtheit Nord-, Mittel- und Südamerikas bezeichnet10, und zwar in dem Augenblick, als das wahre Indien in seiner räumlichen Lage hervortrat und als »Ostindien« abgegrenzt werden musste. Damit war der Irrtum des Kolumbus, der geglaubt hatte, Indien entdeckt zu haben, auch sprachlich korrigiert worden. Humboldt folgte dem alten und neuen Sprachgebrauch und entschied sich erst später für eine klare Trennung. Es gibt bei ihm Wendungen, die belegen, dass er Westindien mit Amerika gleichsetzte!11 Allgemein hat er unter Westindien aber wesentlich mehr Gebiete als wir Heutigen begriffen. Die genaue Untersuchung ergab, dass er seine Vorbereitungen vor allem auf das tropische Südamerika abstellte.12
Wenn es auch unbezweifelbar ist, dass sich das Reiseziel Westindien im persönlichen Umgang mit den Brüdern Keutsch verstärkte, so sind die Reisewünsche Humboldts doch schon längst, nämlich seit 1793, auf die Tropen der Neuen Welt gerichtet gewesen. Die großen Expeditionen von Bouguer und La Condamine (1735–1744) sowie von Solano und Iturriaga (ab 1750) lockten nach Südamerika. Herder hatte im großzügigen Entwurf seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit auf die mächtigsten Gebirge der Erde hingewiesen13, durch die »unsre beiden Hemisphären ein Schauplatz der sonderbarsten Verschiedenheit und Abwechslung« werden.14 Die Kordilleren erschienen ihm wie seiner Zeit als die höchsten Gebirge der Welt. Er wies auf den Gegensatz von Amazonasbecken und