Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
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»Weit-r so guet sy?« sagte er. Und die Gruppe defilierte an ihm vorbei.
Studer ging als letzter. Er hatte sein verbissenstes Gesicht aufgesetzt. Er kam sich überflüssig vor, richtig wie das fünfte Rad am Wagen. Vor ihm gingen die beiden Damen. Sie schritten sehr steif, sie pendelten nicht mit den Hüften. Ihre Haare waren kurzgeschnitten und ihr Nacken ausrasiert. Sie wirkten sehr neutral.
Ein langer Gang. In den Geruch von Apotheke, Bodenwichse und Staub mischte sich ein viertes Element: Rauch von schlechtem Tabak… Links eine Reihe hoher Fenster. Aber sie waren sonderbar gebaut, diese Fenster: in winzige Scheiben eingeteilt, und die Einfassungen der Scheiben waren eiserne Gitterstäbe. Studer prüfte sie verstohlen. Er warf einen Blick hinaus: der Hof. Der Wachtmeister stand gerade dem Ebereschenbaum gegenüber mit seinen roten Beeren und seinen leuchtend-gelben Blättern. Und der Baum tröstete ihn…
Studer hatte sich unter Irrenhaus stets etwas Dämonisches vorgestellt – aber von Dämonie war wirklich nichts zu spüren… Da war ein Zimmer, in sattem Orange gestrichen, mit Bänken an den Wänden, Tischen davor. Vor den Fenstern mit den winzigen, rechteckigen Scheiben wuchsen Tannen, und sie wiegten sich in einem leichten Winde… An den Tischen saßen Männer. Das einzig Auffällige an ihnen war vielleicht, daß sie Bartstoppeln trugen, die wohl mindestens eine Woche alt waren. Ihre Augen waren ein wenig sonderbar, aber eigentlich nicht sonderbarer als die Augen der Leute, die Studer in den Zellen von Thorberg besucht hatte.
Männer mit weißen Schürzen standen herum, sie trugen keine Kragen, dafür kupferne Klappknöpfe, die die Knopflöcher oben am Hemdkragen zusammenhielten. Pfleger anscheinend. Der welsche Assistent hatte sich an den Wachtmeister herangemacht. »Wir sind auf dem R!« flüsterte er wichtig. »Die ruhige Abteilung. Dr. Laduner mag die Pfleger hier nicht, alles Ssstündeler…«
Und richtig war Dr. Laduner gerade an einen der Weißbeschürzten herangetreten und kanzelte ihn ab mit leiser Stimme. Dabei wies er nach einer Ecke des Raumes, wo ein Mann saß, in sich zusammengesunken, und nichts tat. Die andern, vor den Tischen, waren damit beschäftigt, Papiersäcke zu kleben. Es standen Teller mit Kleister herum.
»Der alte Herr Direktor, er hat die Ssstündeler sehr gern gehabt, weil sie nie haben reklamiert… Nur Jutzeler! Er hat wollen organisieren. Letzte Woche, wir haben gehabt fast einen Streik… Und Jutzeler hat sollen fliegen… Aber Dr. Laduner hat ihn protégé… Ich nenne Dr. Laduner immer ›l'éminence blanche‹, die ›weiße Eminenz‹. Sie wissen, es hat gegeben in der Geschichte von Frankreich eine graue Eminenz, die aus dem Hintergrund immer gezogen hat die Fäden… Dr. Laduner, er zieht auch aus dem Hintergrund die Fäden… Die alte Direktor?… Pfüüüh…« Und der welsche Assistent (Neuville hieß er doch?) machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung.
Eine der Damen trabte neben Dr. Laduner, der Hände schüttelte, sich erkundigte, wie es gehe. Das starre Lächeln wich überhaupt nicht mehr von seinen Lippen. Studer war überzeugt, daß Dr. Laduner meinte, sein Lächeln wirke ungemein herzlich, aufmunternd… Er tätschelte hier eine Schulter, er beugte sich dort tief über einen Schweigsamen, der keine Antwort gab, einer regte sich auf und begann laut zu schreien… Dr. Laduner wandte sich um, flüsterte dem Weißbeschürzten etwas zu… Der trat zu dem Aufgeregten – und die Gruppe verließ den Raum…
Wieder eine Holztüre, ein langer Gang, der Parkettboden glänzte. Und über dem spiegelnden Parkett wandelte ihnen ein kurzes Männchen entgegen, mit O-Beinen und einer dicken Kopfzigarre im Mundwinkel. Das Männchen sah sehr vergnügt aus.
»Was macht der Schmocker auf dem K?« fragte Dr. Laduner laut. Die kleinere der beiden Assistentinnen trat neben ihn und flüsterte ihm etwas zu. Studer verstand nur das Wort ›isolieren‹.
»Aber, liebes Kind, das geht doch nicht«, sagte Dr. Laduner ärgerlich. »Der Mann hat zu arbeiten, wie andere auch, und wenn der Pieterlen mit ihm das Zimmer geteilt hat, so ist das kein Grund…«
Da war das dicke Männchen herangekommen und begann mit dröhnender Tribunenstimme eine Rede.
Er verlange, führte er aus, dem Bundesgericht überwiesen zu werden, sein Delikt sei ein politisches, er gehöre nicht in eine Irrenanstalt unter Verrückte und Mörder, er sei zeit seines Lebens ein ehrlicher Mann gewesen, der sich seinen Lebensunterhalt sauer verdient habe, und wenn man seinen berechtigten Reklamationen nicht nachkommen wolle, so werde er andere Wege beschreiten. Er sei immer staatserhaltend gesinnt gewesen, konservativ, denn er finde, das demokratische Regime sei das beste, das es gebe, aber wenn man es ihm so machen wolle, so werde auch er für die Diktatur des Proletariats eintreten… Dann würden aber einige hohe Herren etwas erleben…
Dr. Laduner stand vor ihm, steif aufgereckt, die Hände in den winzigen Taschen seines weißen Kittels. Er sprach schriftdeutsch, als er antwortete.
»Herr Schmocker, was Sie erzählen, ist uninteressant. Sie werden jetzt ins R gehen und Papiersäcke kleben. Sonst stecke ich Sie ins Bad. Adieu.«
Der kleine Mann schwoll rot an, man fürchtete, er werde im nächsten Moment zerplatzen. Seine Stimme bebte, als er sagte: »Sie werden die Verantwortung tragen, Herr Doktor.« Er zog an seiner Zigarre, aber sie war während der Rede erloschen.
»Ge-wiß…« sagte Dr. Laduner und schritt durch die nächste Tür, die der Oberpfleger Weyrauch einladend offen hielt…
»Wenn dr weit so guet sy…«
»Liebes Kind, es ist doch sonst nichts Besonderes auf dem K?«
»Nein, Herr Doktor.« Mit einer Handbewegung war das Fräulein gnädig entlassen und Dr. Laduner winkte Studer zu sich heran. Der Oberpfleger Weyrauch schloß sachte die Tür.
Sie standen in einem leeren Gang, der ziemlich finster war. Hier mußte der eine Schenkel des u-förmigen Anstaltsbaus aufhören, denn der Gang war durch eine Mauer abgeschlossen. Ein Fenster stand darin offen.
»Übrigens, kommen Sie doch noch einen Augenblick«, sagte Dr. Laduner und ließ Studer warten, währender sich an das kleine Fräulein wandte. »Hat der Schmocker nichts sagen wollen, ich meine wegen der Entweichung des Pieterlen?«
»Nein, nein, Herr Doktor«, das kleine Fräulein wurde rot, ihre Ohren glühten. »Er hat nur heute morgen die Arbeit verweigert auf B, und da habe ich gedacht, es sei besser, ihn ein wenig zu isolieren…« Sie verhaspelte sich, schwieg.
Auch sie sprach schriftdeutsch, aber mit dem harten Akzent der Balten.
»Gut, gut, liebes Kind. Regen Sie sich nicht auf. Weyrauch, notieren Sie. Wir stecken den Schmocker doch noch eine Stunde ins Bad, vielleicht klingt dann der manische Erregungszustand leichter ab… Nein, keine Spritze… Wollten Sie etwas sagen, Studer?«
Nein, nein, der Wachtmeister dachte nicht im Traum daran, etwas zu sagen. Er schüttelte sehr intensiv den Kopf.
»Wir betrachten nämlich«, sagte Dr. Laduner und begann im langen Gang auf und ab zu wandeln, die Hände auf dem Rücken aufeinandergelegt, »das Bad nicht als eine Strafe, sondern als ein Mittel, die Anpassung an die Wirklichkeit und an ihre Forderungen zu beschleunigen. Wir haben wenig Möglichkeiten, eine gewisse Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten. Wir sind nicht in einem Zuchthaus, wir sind in einer Heilanstalt. Aber den kranken Geist können wir nur heilen, wenn wir