Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser

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Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten - Friedrich  Glauser

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einem Ruhebett, den Blick zur Tür gewandt, lag ein junger Mann mit angstvoll aufgerissenen Augen. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und Tränen liefen über seine Wangen. Ihm zu Häupten aber saß Dr. Laduner in einem bequemen Lehnstuhl und rauchte. Als er Studer erblickte, sprang er auf, kam an die Tür und flüsterte aufgeregt: »In einer halben Stunde… Ich bin jetzt beschäftigt…« Und drückte die Tür ins Schloß.

      Studer blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Der junge Mann auf dem Ruhebett war der Herbert Caplaun, Sohn des Obersten…

      Warum lag der Herbert auf einem Ruhebett und weinte?

      Frau Laduner kam aufgeregt durch den Gang. Man dürfe ihren Mann jetzt nicht stören, er habe einen Privatpatienten in der Analyse…

      Analyse? Was denn das sei?…

      Frau Laduner winkte ab. Das sei schwer zu erklären. Und Studer dachte, das sei ebenso schwer zu erklären wie der Ausdruck Angstneurose.

      Still ging er in sein Zimmer zurück und begann seine Taschen zu leeren. Sein ramponierter Lederkoffer war geholt worden und stand auf dem Tisch. Unter seine Wäsche legte Studer den Sandsack, die Enveloppe mit dem Staub, den er aus den Haaren des toten Direktors gebürstet hatte, und das Stück groben Stoffs, das er unter Pieterlens Matratze gefunden hatte.

      Dann zog er sein Büchlein aus der Tasche, schlug die Seite mit den Namen auf und begann sie auswendig zu lernen, so, wie ein fleißiger Lateinschüler Vokabeln lernt:

      »Jutzeler Max, Abteilungspfleger

       Weyrauch Karl, Oberpfleger

       Wasem Irma, Pflegerin, 22jährig…«

      Da fiel ihm auf, daß er vergessen hatte, den kleinen Gilgen einzutragen, auch Schül, den Freund Mattos, hatte er vergessen, und auch die Jungfer Kölla von der Küche stand nicht im Büchlein. Aber diese drei ließ er sein, denn sie schienen nicht zum Fall zu gehören…

      Leise flüsterte er ein paarmal:

      »Pieterlen Pierre, Kindsmord«

      und:

      »Caplaun Herbert, Angstneurose.«

      Dann klappte er das Buch zu, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Im Halbschlaf memorierte er noch.

      »Dr. Blumenstein, vierter Arzt, macht jetzt die Sektion, Schwager des Direktors, Frau Schwester der zweiten Frau, Frau ist Lehrerin in Randlingen…«

      Die vielen ›Frau‹ störten ihn, er schüttelte den Kopf, so, als ob sich eine Fliege auf seiner Nase niederlassen wollte, und dann schlummerte er ein.

      Er träumte, Dr. Laduner zwinge ihn, die Namen aller Patienten, aller Pfleger und Pflegerinnen, aller Kuchimeitschi, Handwerker, Verwalter und Ärzte in ein großes Buch einzutragen…

      »Wenn Sie alle Namen auswendig wissen«, sagte Dr. Laduner, »dann können Sie statt meiner Direktor werden… Gewiß…«

      Und Studer schwitzte im Traume…

      Das Demonstrationsobjekt Pieterlen

       Inhaltsverzeichnis

      »Lesen Sie das«, sagte Dr. Laduner und reichte Studer ein Blatt Papier über den kleinen runden Tisch. Dann sank er zurück, stützte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhles, das Kinn auf die Fingerknöchel.

      Die Lampe trug einen pergamentenen Schirm, auf welchem Blumen in durchscheinenden Farben gemalt waren. Studer beugte sich vor und las:

      »Ld. Unterbricht die Ausfrage des Polizisten mit keinem Blick; wenn man ihn anschaut, zieht ein sonderbar unmotiviertes Lächeln über sein Gesicht. Man fragt ihn, was heute für ein Tag sei, er denkt nach und sagt mit einem seltsamen Vorbei: ›Donnerstag.‹ Er habe sich zuerst besinnen müssen. In Haft sei er seit dem Februar, er habe viel Fieber. Auf die Frage, seit wann, sagt er wieder in einem sonderbaren Vorbei: ›Seit vier Jahren‹, und meint damit, er habe seit vier Jahren stets im Frühling erhöhte Temperaturen. Gekommen sei er wegen Mord – auch dazu lächelt er, völlig unberührt, sicherlich ganz unbeteiligt. Er verabschiedet sich auch nicht vom Polizisten. Pupillen ohne Befund, Zunge belegt, Hände kein Tremor, Patellarreflex lebhaft…«

      »Bis dahin«, sagte Dr. Laduner, und nahm Studer das Blatt aus der Hand.

      »Halt, schauen Sie noch das Datum an…«

      »16. V. 1923…«

      Laduner schwieg eine Weile, dann sagte er:

      »Dafür habe ich vom Chef den ersten Rüffel bekommen. Er fand, der Aufnahmestatus sei poetisch, nicht sachlich-wissenschaftlich. Sie haben die beiden Buchstaben zu Beginn des Absatzes gesehen? Ld.? Das war der Ernst Laduner, der damals 30 Jahre alt war, jung, sehr jung… Und damals machte der junge Laduner die Bekanntschaft des Pierre Pieterlen. Es war sein erstes Gutachten…«

      Laduner zündete eine Zigarette an, dann hielt er das rote flache Zündholz zwischen Daumen und Zeigefinger und schwenkte es wie einen winzigen, farbigen Dirigentenstab.

      »Pieterlen Pierre, damals 26 Jahre alt, angeklagt wegen Mordes, weil er sein Kind bei der Geburt erstickt hatte. Und die Fragen der Bezirksanwaltschaft lauteten (ich kann sie Ihnen aus dem Gedächtnis hersagen), sie lauteten in ihrem verzwickten Deutsch:

      1. War die Geistestätigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der Begehung der Tat in dem Maße gestört, daß er die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft nicht besaß?

      2. Für den Fall der Verneinung dieser Frage, war der Angeklagte bei Begehung der Tat vermindert zurechnungsfähig und in welchem Grade?

      – Zwei schöne Fragen… Glauben Sie, daß ich einmal von zehn Uhr abends bis ein Uhr früh über diesen Fragen gehockt bin, um ganz genau zu verstehen, was die Herrschaften eigentlich meinten? So dumm war ich damals… So dumm, daß ich nach diesem Fall die Psychiatrie an den Nagel hängen wollte. Aber man entgeht scheinbar nicht einer Auseinandersetzung. Ich sollte den Pieterlen nachher wieder treffen…

      Unzurechnungsfähig und in welchem Grade?

      Wie soll man so etwas wissen, Studer? Weiß ich, ob Sie Urteilskraft besitzen? Ich kann sehen, wie Sie arbeiten, wenn Sie ein Verbrechen aufdecken, ich kann mir vielleicht eine Meinung bilden, ob Sie logisch denken, wie Sie Fakten feststellen und aneinanderreihen… Aber Ihre Urteilskraft? Denken Sie, für die Herren Juristen muß man den Besitz oder den Nichtbesitz der Urteilskraft in Prozenten ausdrücken! ›Seine Urteilsfähigkeit betrug 25 Prozent oder 50 Prozent.‹ Genau, wie wenn man sagt, die Standard Oil stehen 20 Prozent oder 30 Prozent über oder unter pari… Die Welt ist komisch.«

      Schweigen. Dann war Tellergeklapper aus der Küche zu hören, und der Chaschperli fragte laut, draußen im Gang, ob er dem Vatti gute Nacht sagen dürfe. Darauf antwortete Frau Laduners Stimme, er solle noch ein wenig warten. Der Arzt nahm ein zweites Blatt aus der Mappe, reichte es über den Tisch.

      »Schauen Sie zuerst das Datum an…« Studer tat es.

      »2.

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