Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
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Laduner nahm einen Bogen auf und las:
»Hierdurch hat sich der Angeklagte des Mordes im Sinne von Paragraph 130 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht, denn er hat vorsätzlich und mit Vorbedacht sein am zweiten September 1923 in seiner Wohnung in Wülflingen von seiner Ehefrau, Klara Pieterlen, lebend zur Welt gebrachtes Kind rechtswidrig getötet, indem er ihm unmittelbar nach der Geburt ein Handtuch auf das Gesicht legte, mit der Hand drückte und es mit den Händen würgte, so daß es erstickte…«
Das Blatt flatterte zu Boden, Studer hob es auf, legte es auf den Tisch. Laduner verließ das Zimmer, sprach draußen leise mit seiner Frau, kam zurück, blieb in der offenen Türe stehen:
»Roten oder Weißen?«
»Weißen!« sagte Studer, ohne den Kopf zu heben. Er kam sich unhöflich vor, aber er konnte nicht anders…
»Haben Sie Schlaf, Studer?« fragte Laduner und schenkte die Gläser voll. Er stieß mit dem Wachtmeister an, zerstreut, wartete die Antwort gar nicht ab, sondern ging auf und ab: vom flachen Schreibtisch bis zur andern Ecke des Zimmers, wo der Bücherschrank stand.
»Die Frau war Kellnerin gewesen, Saaltochter, wie wir hier sagen. In Sitten. Der Pieterlen war damals Kondukteur an der Lötschbergbahn. Vier Jahre lang haben sich die beiden gekannt. Dann wollten sie heiraten. Aber der Pieterlen verlor seine Stelle. Er bekam einmal die Grippe; als es ihm besser ging, ist er mit seiner Braut z'Tanz, Kollegen haben ihn gesehen, ihn verrätscht, er wurde entlassen. Er war unbeliebt unter seinen Kollegen, der Pieterlen, man warf ihm seinen Stolz vor. Er ging dann in eine Industriestadt in der Ostschweiz und arbeitete als Handlanger in einer Maschinenfabrik. Vier Wochen vor der Geburt des Kindes heirateten die beiden…
Ich habe zwei Kinder, Studer. Der Pieterlen hat kein Kind gewollt. Das hat er offen und deutlich gesagt. Er hat es dem Bezirksanwalt gesagt, er hat es mir gesagt. ›Vorsätzlich und mit Vorbedacht‹… Das klingt doch schön? Finden Sie nicht?… Neunzehnhundertdreiundzwanzig… Fünf Jahre nach dem Krieg… Wieviel Menschen sind im Krieg umgekommen? Wissen Sie es? Rund ein Dutzend Millionen; nicht wahr? Und der Pieterlen wollte also kein Kind auf die Welt stellen… Nicht aus weltanschaulichen Gründen, obwohl der Pieterlen allerlei gelesen hatte… Lesen macht stolz, Studer, und Pieterlen war stolz. Das haben auch seine Kollegen behauptet und seine Vorgesetzten. Seine Kollegen lasen höchstens das Blättli, nicht einmal Detektivromane, sie jaßten; Pieterlen aber las Schopenhauer und Nietzsche und dachte über die Welt und die Menschen nach. Er zeichnete in seinen Freistunden… Er lernte Englisch, und Französisch konnte er schon… Sein Vater stammte aus Biel, dann war er Melker im Oberland, seine Mutter hat er nie gekannt, sie war an seiner Geburt gestorben…
Pieterlen wollte kein Kind auf die Welt stellen, weil er als Handlanger zuwenig verdiente. Er hatte eine Einzimmerwohnung mit Küche im Dorfe Wülflingen gemietet, weil die Wohnungen dort billiger waren als in der Stadt. Der Handlanger Pieterlen verdiente achtzig Rappen Stundenlohn…
Sie werden mir einwenden, es gäbe soundso viele Handlanger, die auch nicht mehr verdienen, und die doch Frau und Kinder haben… Sie werden mir einwenden, daß es in den umgebenden Ländern noch ärger zugeht als bei uns, denn wir haben Fürsorgestellen und Armendirektoren und Eheberatungsstellen und Trinkerheilanstalten und Gottesgnadasyle und Heil- und Pflegeanstalten und Armenanstalten und Trinkerfürsorge und Waisenhäuser… Wir sind sehr human. Wir haben auch Schwurgerichtssäle und Staatsanwälte und ein Bundesgericht und sogar der Völkerbund tagt bei uns, lieber Studer… Wir sind ein fortgeschrittenes Land. Warum also hat der Handlanger Pieterlen kein Kind gewollt?
Einfache Antwort: Weil er anormal war. Das sagt sich leicht. Ich habe in meinem Gutachten geschrieben…«
Laduner griff wieder nach einem Blatt und las:
»Seine Tat entspricht Motiven einer abnormen Charakteranlage. Er stand schon seit Monaten unter dem Einfluß einer heftigen Gemütsaufregung, die dann schließlich im gegebenen Moment den letzten Ansporn zum Verbrechen gab. Er kann keineswegs als eine Verbrechernatur bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine ausgesprochene, angeborene Charakterabnormität, nämlich um eine schizoide Psychopathie. Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn später noch eine eigentliche Geisteskrankheit, nämlich eine Schizophrenie, bei ihm ausbräche…«
»Schizophrenie…« murmelte Studer. »Was heißt das?«
Die Worte kamen nur undeutlich, weil er das Kinn in die Hände gestützt hatte, und seine Finger den Mund verdeckten.
»Eigentlich heißt es: Spaltung, Gespaltensein«, sagte Laduner. »Eine geologische Angelegenheit. Sie haben einen Berg, er wirkt ruhig und geschlossen, er ragt aus der Ebene auf, er atmet Wolken und braut Regen, er bedeckt sich mit Gras und sprossenden Bäumen. Und dann kommt ein Erdbeben. Ein Riß geht durch den Berg, ein Abgrund klafft, er ist in zwei Teile zerfallen, er wirkt nicht mehr ruhig, geschlossen, er wirkt grauenhaft; man sieht in sein Inneres, ja, das Innere hat sich nach außen gestülpt… Denken Sie sich eine derartige Katastrophe in der Seele… Und wie der Geologe mit Bestimmtheit von den Ursachen spricht, die einen Berg gespalten haben, so sprechen wir mit Bestimmtheit von den psychischen Mechanismen, die eine Seele gespalten haben. Aber wir sind vorsichtig, lieber Studer, und wenn ich ›wir‹ sage, so denke ich an die paar Leute in unserer Zunft, die nicht meinen, daß mit einigen griechisch-lateinischen Sprachenmésalliancen das Rätsel der menschlichen Psyche gelöst sei…
Der Berg! Studer, denken Sie an den Berg! Sein Inneres ist plötzlich sichtbar… Ich werde Sie morgen ins U führen. Dort werden Sie manches verstehen. Unter anderem auch die merkwürdige Scheu, von der viele Menschen, auch die Gesundesten, befallen werden, sobald sie Geisteskranken gegenüberstehen.
Einer von uns hat einmal gesagt, das komme daher, daß man da buchstäblich bei dem Unbewußten zu Besuche sei… Unbewußt, Sie werden mich wieder fragen, was unbewußt ist. Unbewußt ist alles, was wir nicht an die Oberfläche gelangen lassen, was wir so schleunigst als möglich beiseiteschieben, sobald es nur den Versuch wagt, eine Ohrenspitze zu zeigen… Zeigen Sie mir einen einzigen Menschen, der nie in seinem Leben, sei es als Kind, sei es als Erwachsener, wenigstens in Gedanken einen Mord begangen hat, der nie im Traume getötet hat… Sie werden keinen finden… Glauben Sie, daß es sonst so ungeheuer leicht wäre, Menschen in den Krieg zu jagen? Bringen Sie mir den gütigsten Vater, die besorgteste Mutter, wenn sie ehrlich sind, werden sie beide mir zugeben müssen, daß sie nicht einmal, nein, oft gedacht haben: ›Wie leichter hätt' ich's ohne Kinder!‹ Aber wie wollen Sie Ihr schon vorhandenes Kind wegbringen, es sei denn, Sie brächten es um? Sie sind Vater, Studer, ehrlich, Hand aufs Herz: haben Sie früher nicht oft das Kind als eine Last empfunden, als eine Beschränkung Ihrer Freiheit? Nun?«
Studer grunzte. Es war ein böses Grunzen. Er liebte es nicht, daß man ihm so hart auf die Haut rückte. Natürlich hatte er solche Gedanken gehabt, als seine Tochter noch klein war, und er manchmal in der Nacht nicht schlafen konnte, weil das Kind schrie. Vielleicht hatte er sogar laut geäußert, der Teufel möge das verdammte Gof holen… Aber von einem solchen Ausspruch bis zu einem Kindsmord… Obwohl…
»Gedanken sind zollfrei«, sagte Laduner, und sein Lächeln war traurig. »Solange es Gedanken sind, solange es Wünsche sind und wir den Wünschen nicht nachgeben, ist alles recht und in Ordnung,