Der Buddhismus. Gottfried Hierzenberger
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Damit – und auch mit seinem Schweigen zu einzelnen Problemen – hat er zwar den einander widersprechenden Interpretationen seiner Schüler oder der verschiedenen Fahrzeuge des Buddhismus keinen Riegel vorgeschoben, ist sich aber stets treu geblieben und hat vage philosophische Spekulationen in keiner Weise gefördert.
Ein gutes Beispiel für die oftmals sokratisch anmutenden Dialoge des Buddha mit seinen Schülern ist der berühmte Dialog mit dem Mönch Mālunkyaputta, der sich darüber beklagt, dass der Buddha ihm auf Entweder-Oder-Fragen die Antwort schuldig bleibe:
Ist das Universum ewig oder nicht? Ist es endlich oder unendlich? Ist die Seele das gleiche wie der Körper oder ist sie von ihm unterschieden? – Der Mönch bittet ihn, präzise Antworten auf diese wesentlichen Unterscheidungsfragen zu geben – die man sich in Indien seit Jahrhunderten stellt – oder zuzugeben, dass er darauf keine Antwort wisse. Der Buddha erzählt ihm darauf die Geschichte von einem Mann, der von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde. Ein herbeigeeilter Chirurg will ihn von dem Geschoss befreien, doch der Mann sagt: »Ich werde diesen Pfeil nicht herausziehen lassen, bevor ich weiß, wer mich getroffen hat, ob er ein Krieger oder ein Brahmane war, aus welcher Familie er stammt, ob er klein, groß oder von mittlerer Größe ist, aus welchem Ort er kommt und von welcher Art der Bogen ist, mit dem er mit dem Pfeil auf mich gezielt hat …« Der Mann starb, ohne Antworten auf diese vielen präzisen Fragen bekommen zu haben. Ebenso geht es dem Menschen, der sich weigert, den Weg der Heiligung zu gehen, bevor er dieses oder jenes philosophische Problem gelöst hat. Ich weigere mich, diese Fragen zu diskutieren, weil es nicht nützlich ist, weil es nicht mit dem heiligmäßigen und spirituellen Leben verbunden ist und nicht zum Ekel vor der Welt, zur Loslösung, zum Aufhören der Begierden, zur Ruhe, zum tiefen Eindringen, zur Illumination, zum Nirvāna beiträgt. Erinnere dich doch daran, dass ich dich die vier ›Edlen Wahrheiten‹ gelehrt habe. (Majjhimanikāya)
Die vier Edlen Wahrheiten
Die erste edle Wahrheit betrifft den Dukkha (= Leiden, Schmerz): Alles ist Leiden. Jeder Kontakt mit irgendeinem der fünf Skandha (= Aggregatzustände des Lebens) beinhaltet Dukkha. Und dieser Begriff beinhaltet auch Formen des Glücks, der Meditation usw., weil diese unbeständig sind.
Die zweite edle Wahrheit erkennt den Ursprung des Dukkha im Trsnhā (= Begierde, Durst, Verlangen), der beständig nach neuen Wonnen sucht – sinnliche Freuden, Fortbestehen, Auslöschen usw. –, was zu neuen Inkarnationen führt.
Die dritte edle Wahrheit verkündet, dass die Erlösung vom Dukkha in der Zerstörung des Trsnha besteht, was im Nirvāna Wirklichkeit wird – einer dem Bereich des Leidens und Werdens diametral entgegen gesetzten Ebene des Nicht-Bedingten (asamskrta): »Kein Auge, keine Zunge, kein Gedanke kann den Heiligen im vollkommenen Nirvāna erreichen, er ist außerhalb von Raum und Zeit.« (Samyutta-Nikāya IV, 52/3)
Die vierte edle Wahrheit schließlich offenbart den Weg der acht Glieder oder Edlen achtfachen Pfad zum Erreichen des Nirvāna: (1) rechte Meinung, (2) rechtes Denken, (3) rechtes Wort, (4) rechte Aktivität, (5) rechte Existenzmittel, (6) rechte Anstrengung, (7) rechte Aufmerksamkeit, (8) rechte Konzentration. – Diese acht Schlagworte geben nur die Richtung an, sie muss vom Einzelnen erst konkretisiert werden. »Rechtes Wort« meint z. B. Verzicht auf Lügen, Verleumdung, üble Nachrede, harte Worte, Geschwätz usw.
Die vier Edlen Wahrheiten werden auch Weg der Mitte genannt, da sie analog der indischen Medizin aufgebaut sind: Bestimmung der Krankheit / Entdeckung der Ursache / Entschluss zur Beseitigung der Ursache / Therapie mit geeigneten Medikamenten.
Die fünf Skandha (= Daseinsgruppen)
Der Meditierende entdeckt, dass sowohl die Dinge dieser Welt als auch er selbst keine Substanzialität haben und dass er dies im Grunde bejaht und sich gewöhnlich damit abfindet, weil alles in der Welt Existierende sich in die folgenden fünf Aggregatzustände einteilen lässt:
Die Gesamtheit der Erscheinungen (= des sinnlich Wahrnehmbaren, das sich aus den vier großen Elementen oder aus feinstofflicher Körperlichkeit zusammensetzt). Die Empfindungen (die durch den Kontakt mit den Sinnen entstehen und angenehm, unangenehm oder neutral sein können. Sie entstehen aus dem Kontakt der sechs inneren Organe – Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist – mit sechs äußeren Objekten: Aussehen, Geräusch, Geruch, Geschmack, Berührung, geistige Objekte).
Die Wahrnehmungen und Begriffe, die aus diesen Empfindungen entstehen.
Die bewussten oder unbewussten Geistesformationen oder psychischen Konstruktionen (samskara) oder Reaktionen des Willens auf die sechs äußeren Objekte.
Die Erkenntnisse bzw. das Bewusstsein (vijnana), welche(s) der »Geist« (manas) daraus gewinnt.
Mit den Begriffen dieser fünf Daseinsgruppen kann das ganze weite Feld der Lebenserfahrungen des Menschen beschrieben werden. Sie sind durchwegs bedingt, weil sie die vier Kennzeichen des Bedingten aufweisen: Entstehen und Vergehen, Bestehen und Wandel. Diese fünf Daseinsgruppen sind aber nicht das Selbst (atman), denn sonst wären sie nicht der Krankheit und Vergänglichkeit unterworfen und könnten nicht willentlich kontrolliert werden.
Die Welt, in der die Wiedergeburt in ihren fünf Formen stattfindet, besteht aus der Sinnenwelt (kāmadāthu) – in der die Höllenwesen, Tiere, Gespenster, Menschen und die niedere Götterwelt wiedergeboren werden –, aus der Feinkörperlichen Welt (rūpadhātu) – bewohnt von den siebzehn Klassen der Brahma-Götter – und aus der Unkörperlichen Welt (arūpyadhātu) – in der sich jene Götter aufhalten, die in reiner Geistigkeit existieren und sich der Seligkeit (samāpatti) erfreuen und über die Unendlichkeiten und den Gipfel des Daseins (bhavāgra) meditieren. Alle diese Formationen sind im Sinn des Buddha vergänglich und leidvoll, bilden kein Selbst und gehören zu keinem Selbst! Damit setzt sich der Buddha in seinem Dharma deutlich vom Brahmanismus/Hinduismus ab.
Die zwölf Entstehungen in gegenseitiger Abhängigkeit
Darin sah der Buddha das Hauptthema seiner Lehre, weil von ihrer klaren Erkenntnis alles abhängt und nur ihre Überwindung zum Nirvāna führt. Der Buddha wusste, dass diese Kette von Ursache und Wirkung für die Menschen schwer zu begreifen ist. Er wusste sich in der Erkenntnis dieser Kausalität eins mit den Buddhas aller Zeitalter und entschloss sich, sein Wissen nicht für sich zu behalten, sondern seine Lehre dosiert darzulegen. Er drängte sie aber niemandem auf und verlangte keinen Glauben, sondern forderte dazu auf, ihren Wahrheitsgehalt selbst zu prüfen und sich davon zu überzeugen, da sie nur dann greifen und zur Befreiung führen kann.
Durch die (1) Unwissenheit (avidyā) bedingt sind (2) die Karmaformationen (samskāra), d. h. die zur Wiedergeburt führenden Willensäußerungen. Durch die Karmaformationen bedingt ist das (3) Bewusstsein (vijnāna); durch das Bewusstsein bedingt sind (4) Name und Form (nāmarūpa), d. h. die geistigen und physischen Phänomene; durch Name und Form bedingt sind (5) die sechs Grundlagen des Bewusstseins (sadāyatana) – nämlich die »inneren Organe« Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist; durch diese bedingt ist (6) der Kontakt (sparsa) der inneren Organe mit den »äußeren Objekten«: Aussehen, Geräusch, Geruch, Geschmack, Berührung, geistiges Objekt, was zu den »sechs Arten des Bewusstseins« führt: Sehbewusstsein, Hör-, Riech-, Schmeckbewusstsein, Körper- und Geistbewusstsein; durch den Kontakt bedingt ist (7) die Empfindung (vedanā); durch die Empfindung bedingt ist der (8) Durst (trsnā), d. h. die leidenschaftliche Reaktion auf das Empfundene; durch den Durst bedingt