Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Und später, setzte er wegwerfend hinzu, glaubt der Mann fortzuschreiten, weil er die vergänglichen besser sieht.
Eines Abends gesellte sich ein Durchreisender zu uns, der durch einen von der Gesellschaft eingeführt war. Er gehörte nicht zu den akademischen Kreisen, hatte aber dafür ein Stück Welt gesehen und betrug sich vorlaut und taktlos. Als es gegen Mitternacht ging und er schon mehrere Gläser Likör geleert hatte, begann er sich in Zweideutigkeiten zu gefallen, die Fräulein Adele veranlassten, sich unauffällig in ihren Anrichtwinkel zurückzuziehen. Trotz der kalten Aufnahme, die er fand, und trotz der ablenkenden Zwischenreden des Verwandten, der ihn mitgebracht hatte, blieb der Eindringling in der angeschlagenen Tonart und begann gewisse Histörchen zu erzählen, die er für witzig hielt, die aber nur gemein waren.
Sei’s, dass uns der Kopf schon schwer war vom genossenen Punsch, sei’s, dass die Ödigkeit seines Sprechens sich lähmend auf uns legte, wir saßen angewidert aber stumm und fanden nicht den richtigen Augenblick, ihm das Wort zu entziehen; er brachte auch nichts geradezu Grobunanständiges vor, es war nur wie leises Einsickern von schmutzigem Wasser und dazu noch ganz unsäglich albern. Olaf legte den Kopf gegen die Stuhllehne und schloss die Augen, als ob ihm körperlich übel würde.
Da erhob sich Borck, der bisher mit verächtlich zuckenden Mundwinkeln gesessen hatte, und bewegte sich nach dem unteren Tischende. Ich glaubte, er wolle seinen Hut vom Nagel nehmen, um fortzugehen, aber er packte den Eindringling am Kragen, schüttelte ihn mit einer Kraft, die niemand hinter seiner schlanken Gestalt gesucht hätte, und stieß ihm den Kopf auf die Tischplatte, riss ihn dann wieder in die Höhe, drückte ihn abermals auf den Tisch, und so sechs- bis siebenmal in regelmäßigen Absätzen, dass es dröhnte und dem Gemaßregelten Hören und Sehen verging. Dann kehrte er gelassen an seinen Platz zurück, als wäre nichts geschehen. Niemand sagte ein Wort zu dem seltsamen Auftritt, auch nicht der Gezüchtigte selbst, der eine Zeit lang ganz benommen saß, mit blöden Augen vor sich hinglotzte und sich dann taumelnd entfernte.
Wir waren noch alle stumm nach diesem unerwarteten Strafgericht, als Olaf sein Kelchglas erhob und feierlich sagte:
Auf Ihr Wohl, Borck!
Da sprangen alle auf die Füße und stießen mit an, auch jener Mitgast, der den Unhold eingeführt hatte und sich jetzt seines Schützlings schämte.
Als wir aufbrachen, glitt Adele wie eine Lazerte herbei und sagte, indem sie dem Helden des Abends den Hut reichte:
Das haben Sie großartig gemacht, Herr von Borck. Ich werde es nie vergessen, wie Sie den garstigen Menschen packten. Und ich muss Ihnen sehr, sehr danken.
Zum Danken liegt kein Grund vor, antwortete er kühl. Glauben Sie denn, ich möchte selber im Schmutzwasser baden? Ganz zerknickt schlich die Ärmste an ihren Anrichttisch zurück und hob die Augen nicht mehr auf, aus denen langsam zwei große Tränen herabrollten.
*
Studententage! Fülle des Daseins, wie ich sie nirgends wiedergefunden habe. Äußerlich fast unbewegt, aber mit geheimnisvollen Schätzen in der Tiefe, wie ein glatter Seespiegel über kristallenen Wunderpalästen. Alles war unser im Diesseits und Jenseits, wohin wir mit unseren Gedanken reichen konnten; Homer und Goethe, Platon und Schopenhauer, Kunst, Liebe, Unsterblichkeit. Durch Gustavs Nähe besaßen wir das alles. Mit seiner übermächtigen Fantasie zog er wie die thessalischen Zauberer Mond und Sterne zu sich herunter und hängte sie als Tafelbeleuchtung auf, dass wir oft nicht mehr wussten, in welcher Welt wir waren.
Vom Genius der Völker sprach er gern, und wie das eine sich vom anderen unterscheide. Wenn ich mich wunderte, woher er all diese Kenntnis eines Weitgereisten brachte, so lachte er mich aus:
Im kleinsten Teil ist das Ganze enthalten. Zeigt einem Künstler eine Hand, einen Fuß, er erkennt daraus die ganze Gestalt. Gebt mir ein einziges Dichterwerk eines Volkes, so weiß ich dieses Volkes Wesen und Wollen.
Frankreich lobte er, aber er liebte es nicht. Es war ihm das Land der großen Schriftsteller und der kleinen Dichter. Sein Schrifttum verglich er einem breiten, künstlich angelegten Berieselungsfeld, wo bei äußerster Ausnützung mäßiger Naturmittel eine reiche Ernte erzielt wird. Das war die Einleitung zu Anklagen feuriger Liebe gegen das eigene Volk.
Deutschland, du ewig morgiges, sagte er, du Widerspruch der Natur, Kind des Überflusses und der Not, das seine Fülle nicht beherrschen kann, die ihm immer überströmt, zerrinnt, dass es mit leeren Händen steht, und o Schmach! bei den ärmeren Nachbarn borgen geht.
Bei solchen Worten erhob sich dann wohl ein Sturm des Widerspruchs, aber er ließ sich nicht irremachen.
Welch ein Edelgut liegt verschüttet in unserem Boden: Kleist, Hebbel, Grabbe, Hölderlin! Wer nennt ihre Namen draußen in der Welt, und wer kennt sie bis heute im Vaterland! Und noch immer wächst die Zahl der Unverstandenen. Was wird das für ein Augenblick sein, wenn sie einmal alle aufstehen zur Geisterschlacht, ein Heer von lauter Feldherrn, um zusammen die Welt zu erobern.
Mit Kuno Schütte und Olaf Hansen begegnete er sich in dem Wunschtraum von einer kommenden Weltherrschaft des germanischen Geistes, der ohne Unterdrückung, ohne weltliche Macht alle anderen als ein großes Band der Einheit umschlingen sollte. Keine Erinnerung an die gemeine Wirklichkeit des Völkerlebens hemmte den Flug dieser Geister, von Weltbegebenheiten war nie die Rede; um die Luft rein zu erhalten, las man nur selten eine Tageszeitung, man lebte, dachte, sprach, als ob es gar keine Staatsgebilde gäbe, die eifersüchtig sind und wachsen wollen. Kein Schaumwein konnte erregender sein als Gustav Borck, wenn er einmal überfloss. Er war imstande, sich Abende lang mit Kuno Schütte, dem Eddabeflissenen, in Stabreimen zu unterhalten; es klang schaurig und geheimnisvoll wie dunkle Weissagungen einer