Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Wenn ich meinem neuen Freund auch nicht immer auf seinen Denkwegen folgen konnte, so danke ich es doch ihm, dass ich nicht wie tausend andere mit einem Ranzen voll fertiger Begriffe, woran sich hernach nichts mehr ändern lässt, von der Hochschule gekommen bin. Denn nie ließ er mich ungestört die bequeme Straße einschlagen, auf der die Mehrzahl der studierenden Jugend hinter den Worten des Meisters herwandelte, immer wies er auf irgendeinen abseitigen Fußpfad, der nach einem einsamen Aussichtspunkt führte.
Allmählich fand sich ein kleiner Kreis von jungen Leuten zusammen, die alle in der gleichen Gedankenwelt lebten. Wir trafen uns des Abends in dem beliebten Studentenkaffeehaus Molfetta. Ein kleines Seitengelass, nicht größer als ein Alkoven, hart neben der Anrichte, wo die Schwester des Wirts, eine schöne blasse Südtirolerin, den Kaffee braute, das köstlich duftende Getränk von Mokka, Portoriko und gebranntem Zucker, für das sie eben so berühmt war wie für ihre dunklen, schwermütigen Augen, war der Schauplatz unserer Zusammenkünfte. Dieser bescheidene Raum hörte damals manchen anregenden Gedanken, manches ungewöhnliche Wort, das man gern in sein späteres Leben hinübergenommen hätte, zum Genuss des Augenblicks verrauschen. Denn dort saßen wir die halbe Nacht hindurch, fünf, sechs junge Gesellen mit Gustav Borck als unserem König.
Wenn ich an die Tafelrunde bei Molfetta zurückdenke, so drängen sich vor allem drei blonde, echt germanische Häupter in meine Erinnerung. Da war ein großer, hagerer Rheinländer mit bleichem Gesicht und starken Backenknochen, der einen verkürzten Arm hatte, Kuno Schütte, der nachmalige bekannte Theosoph. Er war schon damals ein Sonderling, der es liebte, nie genau wissen zu lassen, was er tat, und sich einen Anschein von Allgegenwart zu geben, indem er immer auftauchte, wo man ihn nicht erwartete. Er hatte denselben unwiderstehlichen Zug zu Gustavs Wesen wie ich, legte ihn aber auf seine eigene mystische Weise aus, indem er sich einbildete, ihm irgendwann in abgelebten Zeiten nahegestanden zu haben. Da war der stämmige, blatternarbige Heinrich Sommer, Preuße von Geburt und ehemaliger Theologe, der sich lange mit religiösen Zweifeln gequält hatte und noch in hohen Semestern zur Medizin übergegangen war, um später ein namhafter Chirurg zu werden. Da war endlich unser Benjamin, der rührend jugendliche und schöne Olaf Hansen, ein Landeskind, aber von schwedischen Ureltern stammend. Die übrigen waren mehr oder weniger Strohmänner, stumme Personen, und gehörten nicht zum festen Bestand unseres Kreises. Wir Fünfe aber hingen fest zusammen, durch Gustavs Überlegenheit wie mit einem gemeinsamen Stempel geprägt. Nach Studentenbrauch standen wir alle bald auf Du; nur Gustav Borck blieb außer der Vertraulichkeit und immer von einem letzten Rätsel wie von einer geheimnisvollen Wolke umgeben. Er beherrschte das Gespräch, auch wenn er schwieg, was oft halbe Abende lang der Fall war; er wirkte dann durch seine bloße Gegenwart geistig ein. Kam es zu Redekämpfen, so gab sein Wort den Ausschlag, und dabei fiel mir auf, dass er selten etwas ganz Außerordentliches, sondern meist nur das scheinbar Naheliegende sagte, das wir anderen übersehen hatten. War es ausgesprochen, so verstand es sich von selbst. Einzig Olaf Hansen traf zuweilen den Nagel noch besser auf den Kopf, aber bei ihm klang es, wie wenn ein Kind etwas Tiefsinniges sagt, dessen Tragweite ihm selber verborgen ist.
Am glücklichsten war ich, wenn Borck ein Buch aus der Tasche zog und aus Shakespeare oder Kleist vorlas. Er besaß zwar nicht die Gabe, von einer Rolle in die andere zu schlüpfen und dem Dichterwort mit der Stimme Körper und Farbe zu geben, dafür war sein nordisches Wesen zu spröde, aber er lebte dann so ganz in der Dichtung, dass keine Schönheit ungefühlt vorüberging, und der Raum füllte sich mit übermenschlichen Gestalten. Mitunter las er auch Gedichte vor, in derselben gleichmäßig gehobenen Tonart, und verlangte unser Urteil zu hören. Wir ahnten, dass es die seinigen waren, und da wir alle unter seinem Banne standen, so fanden wir die Gedichte wundervoll und lobten sie über die Maßen. Nur Olaf sagte gelegentlich in seiner einfachen Art, dass ihn dies oder jenes nicht befriedige, doch ohne sein Urteil begründen zu können. Dann zerriss Borck das Blatt auf der Stelle. Ich glaubte, es geschehe aus Ärger, und machte ihm einmal Vorwürfe darüber, wobei mir die Bemerkung entfuhr, dass Olaf doch zu jung sei, um mit seiner Meinung ernst genommen zu werden.
Die Jahre tun nichts zur Sache, antwortete Gustav abweisend.
Auch Olaf machte Verse, die er uns dann und wann vortrug. Er sagte sie mit leiser, etwas zitternder Stimme ganz kunstlos her, wobei er die Augen schloss und sehr bleich wurde. Es klang nur, wie wenn ein Bächlein über Kiesel murmelt. Ich wunderte mich, dass Gustav Borck mit wahrer Andacht zuhörte, denn für uns andere war es nur ein Gestammel.
Die Verse des guten Jungen sind aber doch gar zu kindlich, äußerte ich einmal gegen ihn, da sah er mich seltsam an und erwiderte: Gott ist mehr im Säuseln der Blätter als im Heulen des Sturmes. Lassen Sie mir Olafs Verse ungerupft.
Wenn wir anderen auch mit Olafs Gedichten nicht viel anzufangen wussten, für die lebendige Poesie seiner Gegenwart hatten wir alle eine Empfindung. Wenn er hereintrat, so war’s, als würde ein Veilchenstrauß auf den Tisch gestellt. Junge Mädchen, auch die lieblichsten und unschuldigsten, schienen im Vergleich zu ihm irdischer und minder rein. Von der Welt wusste er so gut wie nichts und misstraute niemand. Er sah aus, als ob er die Sprache der Tiere verstünde und mit den Naturkräften auf du und du sei. Er hatte kein eigentliches Fachstudium, sondern hörte nur wenige Kollegien, die ihn besonders anzogen, aber er las viel, um die Mängel seiner Vorbildung auszugleichen, weil er durch Kränklichkeit am regelrechten Schulbesuch verhindert worden war. Zukunftspläne machte er auch keine, und er glich einer Pflanze, die nur zum Blühen, nicht zum Früchtetragen bestimmt ist. Es war ein offenes Geheimnis, dass er mit schwärmerischer Verehrung an der blassen Adele hing, die ihrerseits nur Augen hatte für Gustav Borck. Wenn sie mit der Bedienung der Korpsstudenten, die im großen Saale über uns ihren Stammsitz hatten, fertig war, kam sie herunter und setzte sich zu uns an den Tisch, um Gustav vorlesen zu hören.
Er nahm aber ihr Wohlgefallen kalt auf, und als ich ihn einmal damit neckte, sagte er obenhin:
Es gilt ja doch alles bloß der Montur (womit er seine stolze männliche Erscheinung meinte), für das Beste in uns haben die Mädchen keine Fühlhörner.
Überhaupt gefiel er mir in Frauengesellschaft