Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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So kam es, dass Gustav Borcks Lebensweg sich auf diesem Kreuzungspunkt mit dem meinen treffen musste, und von all den vielgestalten Begegnungen meines Lebens ist keine innerlich bedeutungsvoller für mich geworden als diese. Auf allen Gebieten des Geistes, die ich als tastender Neuling betrat, gehabte er sich wie ein König im angestammten Reiche. Gingen wir nach der Vorlesung noch eine Strecke zusammen, so vernahm ich aus seinem Munde manches Wort über den gleichen Gegenstand, das mir hundertmal mehr zu denken gab, als die Worte des Lehrers, und vieles hat sich damals meinem Gedächtnis eingeprägt, was ich erst in reiferen Tagen richtig verstehen konnte. Es schien mir dann immer, als hätte er einen Geheimschlüssel zu all den Dingen, vor deren Tür die andern im Dunkel tappten.
Eines Tages nach einem trockenen Shakespeare-Kolleg, das ich jedoch pflichtschuldig nachgeschrieben hatte, sollte ich plötzlich inne werden, was für ein Schlüssel das war.
O die Methode! die Methode! sagte er. Die Erbsünde der Deutschen! Mit was für Hebeln und Schrauben gehen sie dem armen Genius zu Leibe. Der aber macht sich schlank und schlüpft ihnen aus den Händen und lässt die ganze staunenswerte Gelehrsamkeit im Dunkeln suchen und raten, wie er zu Werke geht.
Wie geht er nach Ihrer Ansicht zu Werke? fragte ich, nach jedem seiner Worte begierig wie nach einem Goldkorn haschend.
Er lachte leise vor sich hin.
So ist’s recht. Sie fragen wie ein Mohikaner, ohne alle Gelehrsamkeit, aber zum Zweck. Wie geht er zu Werke? Gar nicht geht er zu Werke. Er sucht nicht die Poesie, sie kommt zu ihm, er atmet sie ein und aus, er findet nur sie im Leben, weil er alles andere als leere Schale liegen lässt.
Aber auf welchem Wege kommt sie zu ihm?
Durchs Ohr.
Durchs Ohr?
Jawohl, durch das offene Ohr, in das alles Lebende seine Beichte flüstert. Warum sind Goethe, Shakespeare, Dante so groß, als weil sie die größten Beichtväter des Menschengeschlechtes waren? Und keiner ist berechtigt, sich einen Dichter zu nennen, dem es nichts von seinen geheimsten Heimlichkeiten anvertrauen mag. Es sind ausgeplauderte Beichtgeheimnisse, womit uns Shakespeare oft so jählings bis ins Mark erschüttert.
Meinte nicht der trockene Herr auf dem Katheder etwas ähnliches, als er von des Dichters Lebenskenntnis und Beobachtung sprach?
Lebenskenntnis! Beobachtung! rief er empört, als wäre er persönlich beleidigt. Ist denn der Dichter ein Detektiv? Was sollte er mit der Beobachtung? Nichts, was das Leben liefert, kann die Dichtung, so wie es ist, gebrauchen, und doch sind alle ihre Gebilde schon irgendwo auf Menschenbeinen gegangen. Verstehen Sie, lieber Unkas, wie ich es meine?
»Unkas« nannte er mich nach dem »Letzten Mohikaner« aus dem »Lederstrumpf«, wenn er mir besonders wohlwollte.
Ich musste bekennen, dass ich ihn ganz und gar nicht verstand, es schien mir vielmehr, als ob er sich geradezu widerspreche.
Der Stoff, den der Dichter zu kneten bekommen hat, sagte er mit Nachdruck, mehr und mehr in Feuer geratend, ist immer nur er selbst. Wohl findet er auch in seiner Umwelt die lebendigen Ansätze zu seinen Charaktergebilden, und wo ihm ein solcher begegnet, da schießen ihm gleich die verwandten Züge von allen Seiten zu. Aber den zeugenden Urstoff, in dem sie sich zur unlöslichen, naturgewollten Einheit zusammenfinden, den Lebensfunken, der sie erst stehen und gehen macht, holt er aus dem eigenen Innern. Denn in sich hat er das Zeug zu allen Charakteren und Leidenschaften, er umspannt mit seiner Natur die ganze Stufenleiter der Menschheit und reicht von der einen Seite bis an den Heiligen, mit der andern an den Verbrecher. Diese Fähigkeiten aber, die ihm nicht des Handelns wegen gegeben sind, ruhen zunächst unbewusst und untätig in ihm; sie wollen erst aufgeregt und befruchtet sein. Dafür ist nun das Leben da. Es berührt ihn mit irgendeiner Erfahrung, einem inneren Erlebnis, das vielleicht für einen anderen gar keines wäre, denn was ein rechter Poet ist, der erlebt fort und fort, von außen und von innen. Solch ein Erlebnis, sei es ein Vorgang oder vielleicht nur ein Wort, eine erhaschte Gebärde, irgendein Laut aus den Tiefen der Menschenbrust, ein Blick, der stärker getroffen hat, springt wie ein Keim in seine Seele. Da bleibt er unbewusst liegen, aber er ruht nicht, er verwandelt sich ganz leise und unbemerkt, er ist in Bälde nicht mehr, was er ursprünglich gewesen. Er wächst immer weiter, indem er verwandte Stoffe des Innern an sich zieht. Von diesen formlosen, aber innerlich befruchteten Zellengebilden ist des Dichters Seele ganz voll, sie tauchen beständig in ihm auf und nieder, er greift hinein, wenn er ihrer bedarf. Sie sind gleichsam der Urnebel, aus dem er seine Gestalten formt. So meinte ich das. Habe ich mich jetzt verständlich gemacht?
Ich nickte, um ihm nur nicht ganz als Böotier zu erscheinen. Aber tatsächlich schwankte mir das Hirn. Ich raffte alle meine Geisteskräfte zusammen, um zu der naheliegenden Frage zu kommen: Woher wissen Sie denn, wie dem Dichter zumute ist?
Weil