Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Bei diesem letzten Tübinger Abenteuer ging auch Berta zum letztenmal durch unser Leben. Unter den aufständischen Zuckungen, die damals durch Spanien liefen, geschah es bald danach, dass in Granada an Stelle des abgesetzten Gouverneurs das schönste Mädchen der Stadt bei einem großen Stiergefechte den Vorsitz führen sollte. Die Wahl fiel auf Berta. An diesem weithin sichtbaren Platze sah sie ein Angehöriger des ältesten andalusischen Adels und verliebte sich so, dass er augenblicklich um die junge Schönheit warb, die ihm denn auch die Hand zu einem freilich nicht sehr beglückenden Ehebund reichte. Ich besitze noch ihr Bild mit spanischem Schleier und Fächer, wie sie jenes Tages das Los ihres Lebens zog, das sie für immer an Spanien fesselte.
Die letzten Tage in Tübingen rannen mir unaufhaltsam durch die Finger. Die Stadt meiner Jugend war doch tiefer mit mir verwachsen, als ich selber wusste. Sie hatte auch für alle Zeit richtunggebend auf mein Stilgefühl eingewirkt. Noch heute, wenn ich mir eine ideale Stadt in Gedanken baue, mit solchen kühnen Terrassen, solchen überschneidenden Dächern, steinernen Treppen, Durchgängen, hängenden Gärten, steigt sie nach einem stillen Fluss hinunter. Einen schwingenderen Rhythmus als die Straßenzüge Tübingens habe ich nirgends gefunden. Dieses Anschwellen und Absinken der gepflasterten Straßen, für mich sind es die Hebungen und Senkungen und wunderbar gefühlte Zäsuren eines Gedichts. Wie in der Neckarstraße hoch über unseren Häuptern sich der Umgang der Stiftskirche, wo ihm der Raum zu eng wird, mit plötzlichem Entschlusse leicht und frei über die Straße herausschwingt, wie das schmale Mühlgässchen sich zu jener Zeit noch mit steilem Gefäll zwischen die stürzende Ammer und die hohe, modrige Stadtmauer zwängte, während der Österberg seinem schön bebuschten Fuß bis in die Ammer herabstreckte und ein anderer stiller Garten oben von der Mauer zum Gegengruße heruntersah, das sind Züge, die nie im Geist verlöschen. Von der Mitte der unvergesslichen alten Neckarbrücke führte eine steile Holzstiege auf den Wöhrd. An ihrem Fuße standen zwei mächtige Linden wie Schildwachen; sie gehörten mit zum Letzten, was ich an Freundschaft zurückließ, und ihnen galt mein letzter Abendgang. Wir hatten allerlei Heimlichkeiten miteinander, die sie zu hüten versprachen, bis ich wiederkäme. Leider konnten sie ihr Wort nicht halten, weil sie unterdessen gefällt worden sind. Unter ihrem Schirmdach stehend, schrieb ich in der zum Schlusse aufgestiegenen Wehmut noch ein paar Verse in mein Taschenbüchlein:
O Heimat, Heimat, vielgescholten,
Doch vielgeliebt und vielbeweint,
Seit heut die letzte Sonne golden
Für mich auf deine Hügel scheint.
Nie wollt’ ich scheidend dich betrauern,
So hatt’ ich trotzig oft geprahlt,
Wie nun der Schmerz die düstern Mauern
Schon mit der Sehnsucht Farben malt.
So lass uns denn in Frieden scheiden,
Von Groll bewahr’ ich keine Spur.
Dein Bild soll ewig mich begleiten
Und wecke teure Schatten nur.
Und kehr’ ich einst mit müdem Flügel,
Wenn meine Bahn ein Ende hat,
Dann gönne bei des Vaters Hügel
Der Tochter eine Ruhestatt.
Dann kam der Morgen, wo wir zu Fünfen in der Bahn saßen, Mama, Edgar, Balde, die treue Josephine, die uns nie verließ, und ich, um einem neuen, unbekannten Leben entgegenzufahren. Ich setzte mich rückwärts, und meine Augen saugten sich so lange wie möglich an dem wohlbekannten Stadtprofil fest. Der Kirchturm schwand als letzter um die Ecke. Die Jugendstadt versank, und die Weite der Welt, die langersehnte, tat sich auf.
1 Für den Druck schöner verändert: Wie ganz wir uns aus Lebensgrund verstehen. <<<
Erinnern Sie sich, liebe Freundin, wie Sie vor Zeiten einmal mit dem Schreiber dieser Blätter das kleine Friedhöfchen von La Tour de Peilz am Genfer See besuchten? – Die ersten Vogelstimmen waren in der Luft, und die Bäume zeichneten ihr zartes Geästel noch laublos, aber schon mit verdickten, drängenden Knötchen wie mit abertausend Perlen in den tiefblauen Äther. Sie sprachen nur die zwei Worte: Heiliges Leben! Dann aber blickten Sie mich fragend an, weil ich vor einem namenlosen Grabstein mit befremdender Inschrift stehen blieb. Und Ihr alter Freund versprach, Ihnen von dem Schläfer zu erzählen, dessen Ruhe diese Grabschrift hütet. Ein Menschenalter verging, bevor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich selber anschickt, in den dunklen Nachen zu steigen, sendet er Ihnen diese Blätter. Verfahren Sie damit nach Ihrem Ermessen: streichen Sie, kürzen Sie nach Bedarf, lassen Sie Jahre, Jahrzehnte vergehen, lassen Sie die ganze Welt sich wandeln; jener Tote hat Zeit zu warten. Nur einmal noch soll er im Glanz der Jugendtage wieder aufstehen, ehe die einst so verheißungsvollen Züge für immer verlöschen.
Kann sein, es lebt noch da und dort einer, der ihn gekannt und geliebt und dann verurteilt hat. Kann sein, es sind noch irgendwo Spuren seines Werkes erhalten. Dann findet er vielleicht spät noch das Verstehen und die Lossprechung, die dem Lebenden versagt waren.