Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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In Tübingen fehlte es mir aber zunächst an einem passenden Umgang. Zwischen einem Menschen von meiner buntscheckigen Vergangenheit und den Familiensöhnen, die ganz warm aus dem engen häuslichen Nest auf die Hochschule kamen, war die Kluft zu groß. Ich ließ mir zuweilen einen der harttrabenden »Philistersgäule« satteln und ritt in den sonnigen Spätherbsttagen allein in die reizvolle Gegend hinaus. Im übrigen lebte ich still über meinen Büchern und fand mich inmitten des lauten Studententreibens einsam wie im Urwald.
Man spricht soviel vom Blitzstrahl der Liebe. Dass es auch einen Blitzstrahl der Freundschaft gibt, werden wenige verstehen, ich aber sollte es in jener Zeit erfahren.
Eines Morgens, als ich in einer der langen Alleen spazierenging, die in dreifacher Reihe dem Städtchen vorgelagert sind, begegnete ich einem jungen Mann von ungewöhnlich anziehender Erscheinung, der in Gang und Haltung etwas Soldatisches an sich hatte, womit ein seltsam abwesendes, verträumtes Auge im Widerspruch stand. Er war mir durch sein edles Äußere schon früher in den Straßen aufgefallen; auch zu Pferde hatte ich ihn mehrmals gesehen und bemerkt, dass er kein Sonntagsreiter war, sondern mit bequemer Selbstverständlichkeit im Sattel saß. Aber als er jetzt in dem raschelnden Kastanienlaub nahe an mir vorüberging und mich mit einem schnellen Blick streifte, da durchfuhr mich’s: diesen oder keinen suchst du dir zum Freund. Ich nahm es für eine gute Vorbedeutung, dass ich ihn noch am selben Vormittag in einem Kolleg über ältere deutsche Literatur wiederfand. Er saß nur wenig von mir entfernt, und ich war die ganze Zeit über mehr mit ihm als mit dem Vortrag beschäftigt. Ich hätte es kaum in Worte fassen können, was mich so ganz eigen zu ihm hinzog. Aber alles an ihm fesselte mich: die Stirn, die unter dem dichten Haar mit edler Wölbung in den Schädel überging, die dunklen, über der Nase leise zusammentreffenden Augenbrauen, die Art, wie er den Kopf trug, lauter Äußerlichkeiten, die mir der Ausdruck für etwas waren, wofür ich noch keinen Namen hatte. Während die anderen mit vorgeneigten Köpfen emsig kritzelten, hielt er die Augen ruhig auf den Vortragenden geheftet und machte nur dann und wann eine rasche Aufzeichnung. Von da ab saßen wir fast einen Winter lang zweimal wöchentlich im gleichen Hörsaal beisammen, ohne je ein Wort zu tauschen. Mein Herz brannte danach, ihn anzureden, aber sein abgeschlossenes Wesen benahm mir den Mut. Und doch war ich sicher, dass auch er mich bemerkt hatte, denn bei jedem besonderen Anlass begegneten sich unsere Augen. Ich will ihn Gustav Borck nennen, es ist der Name, den er sich später gewählt hat; warum ich seinen wirklichen Namen, dem ein »von« vorgesetzt war, nicht nenne, wird sich aus seiner Geschichte von selbst erklären. Außer dem Namen konnte ich nichts von ihm erkunden, als dass er Norddeutscher war, als Jurist immatrikuliert, und dass er ein Türmchen hart am Neckar bewohnte, worin ein Unsterblicher in vierzigjähriger geistiger Umnachtung gelebt hatte. Dort konnte man vom jenseitigen Flussufer aus zuweilen seinen dunklen Kopf am Fenster erkennen.
Was sich anzieht, muss sich endlich finden. Bei einem Festkommers zu Ehren eines scheidenden Lehrers ergab es sich, dass wir beide nebeneinander zu sitzen kamen. Ich stellte mich vor, wie ich’s die andern tun sah:
Gestatten Sie – – mein Name ist Ewers.
Er erhob sich: Mein Name ist Borck.
Eine Verbeugung, dann setzten wir uns, aber durch die dürre Formel hindurch grüßten sich unsere Seelen.
Sie sind Amerikaner, ich weiß von Ihnen, sagte er verbindlich. Sie sind so glücklich, einem großen Gemeinwesen anzugehören und schon viel gesehen zu haben. Ich beneide Sie.
Die leise Bitterkeit dieser Worte war die Folge der unsäglich beengenden Verhältnisse des damals noch ungeeinten Deutschland. Ich aber fühlte mich dadurch gehoben, als ob man mir ein Adelsdiplom auf den Tisch gelegt hätte.
Jene Nacht wurde die Geburtsnacht einer Freundschaft, die durch eine Reihe von Jahren den stärksten Inhalt meines Lebens gebildet hat. Wir schlossen uns zusammen, wie wenn jeder dem andern bisher zu seinem Dasein gefehlt hätte. Ich bewunderte ihn als Vorbild altvererbter, veredelter Kultur, er sah in mir, wonach sein heftiges Verlangen stand: Freiheit und Weltweite.
Sie haben noch gar nichts gedacht, aber Sie haben gelebt, pflegte er mir unter den verschiedensten Formen immer wieder zu sagen. Ich, der nicht leben darf, wandere mit dem Geist durch Raum und Zeit; so geben wir zwei zur Not einen ganzen Menschen.
Gustav Borck stammte aus altpreußischem Militäradel, für den es sich von selbst verstand, dass der einzige Sohn einer töchterreichen Offiziersfamilie, deren Vorfahren die Schlachten Friedrichs mitgeschlagen hatten, in der Kriegsschule erzogen wurde. Allein dieser feurige und selbstherrliche Mensch war wie durch ein Versehen der Natur in seine steifleinene Umwelt hineingeboren; statt wie die Kameraden mit vollen Lungen den Kastengeist einzuatmen, behielt er auch in der Anstalt seinen eigenen Geist, mit dem er bei Vorgesetzten und Mitschülern anstieß. Zu Hause in den Ferien war es fast noch schlimmer, denn da herrschte dieselbe strengsoldatische Lebensauffassung, und er konnte sich weder mit den Eltern noch mit den Schwestern verstehen, die die Dienstordnung auswendig wussten und von nichts redeten als von Übungsplatz und Truppenschau. Sein Vater, ein Veteran aus den Schleswig-Holsteinschen Kämpfen, der mit einer Kugel im Bein, die er sich vor den Düppler Schanzen geholt hatte, und dem Oberstenrang verabschiedet war, erwartete im stillen Großes von diesem Sohne, behandelte ihn aber mit Strenge, um sein Freiheitsgefühl und die Neigung zu außermilitärischen Dingen in ihm niederzuhalten. Es half nichts, dass dieser in der Anstalt nicht bloß als begabtester Kopf, sondern auch als bester Reiter und Fechter galt; was sein Vater an ihm vermisste, konnte und wollte er sich nicht geben. Nur an seine frühesten Jugendjahre, die er bei einem mütterlichen Oheim in Paderborn zubrachte, dachte er mit Freude als an die einzig glückliche Zeit seines Lebens