G. K. Chesterton: Krimis, Aufsätze, Romane und mehr. Гилберт Кит Честертон
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»Es war eine Gewohnheit des verflossenen Marquis de St. Eustache«, sprach der neu ausgeschlüpfte Policeman und zog ein ledernes Etui heraus, »stets einen Operngucker mit sich zu führen. Entweder der Präsident oder der Sekretär – kommt mitten unter jenem Gesindel auf uns zu. Sie haben uns an einem hübsch verschwiegenen Plätzchen erwischt, von wo aus wir nicht im geringsten in die Versuchung geraten könnten, unsere Schwüre zu brechen und nach der Polizei zu rufen. Dr. Bull, ich habe Sie unter dem schweren Verdacht, daß Sie durch diesen Gucker besser sehen werden als durch Ihre höchst dekorativen Brillengläser.«
Und er händigte den Krimstecher dem Doktor ein, der unverzüglich seine Brillen abnahm und durch den Apparat hindurchäugte.
»Es braucht so schlimm gar nicht sein, als Sie sagen«, sprach der Professor, und er fröstelte einigermaßen. »Das ist ja ne ganz prächtige Anzahl Leute – gewiß – aber es können ebenso leicht allzusammen lauter gewöhnliche Touristen sein.«
»Haben gewöhnliche Touristen für gewöhnlich«, fragte Bull mit dem Feldstecher auf der Nase, »schwarze Halbmasken vorm Gesicht?«
Syme riß dem Sprecher schier das Glas aus der Hand und sah nun selber durch. Die meisten des anrückenden Haufens schauten in der Tat ordinär genug aus. Aber das war richtig: zwei oder drei der Führer in der Front trugen schwarze Halbmasken – bis fast auf den Mund herab. Eine solche Vermummung ist eine sehr komplette, besonders auf eine solche Entfernung. Und Syme fand, daß es unmöglich war, aus den glattrasierten Kinnladen allein der Herren, die da voran sich unterhielten, irgendwie Vermutungen zu holen. Aber jetzt – jetzt wie sie sprachen, lächelten sie allzusammen … und einer von ihnen lächelte ganz und gar einseitig…
Das elfte Kapitel.
Die Verbrecher machen Jagd auf die Polizei
Syme setzte den Feldstecher ab. Totenblaß vor Angst und – vor Erlösung.
»Der Präsident – immerhin – ist nicht darunter«, sagte er und schneuzte sich.
»Aber – gewiß sind sie augenblicklich erst am Horizont«, sagte der bestürzte Colonel und blinzelte. Er hatte sich erst halb von Bulls hastiger, wenn auch höflicher Erklärung erholt. »Ist es denn möglich, daß Sie Ihren Präsidenten unter all diesen Leuten herauskennen?«
»Wärs nicht auch möglich, daß ich unter all diesen Leuten einen weißen Elefanten herauszukennen vermöchte?« versetzte Syme etwas gereizt. »Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, daß sie augenblicklich erst am Horizont sind. Aber wenn Er dort unter ihnen wäre … bei Gott! Die Erde hier würde erzittern!«
Nach einer kleinen Stille behauptete der neue Mann namens Ratcliffe mit viel Düsterheit:
»Selbstverständlich ist der Präsident nicht darunter. Aber ich wünschte, ich wünschte – er wäre darunter. Sehr wahrscheinlich reitet der Präsident augenblicklich im Triumph durch Paris oder sitzt auf den Ruinen von St. Pauls Cathedral.«
»Das ist doch absurd!« sagte Syme. »Irgend etwas mag während unserer Abwesenheit geschehen sein. Aber so auf einmal hat er die Welt denn doch nicht bemeistert. Es ist ja wahr«, setzte er hinzu und blickte besorgt über die Felder weit bis zur kleinen Station hin, »es ist sicherlich wahr, daß da irgendein Pöbel auf uns her zu kommen scheint. Aber der ist doch nicht die Armee, die Sie aus ihm machen wollen.«
»Oh, die da?« sprach der neue Detektiv verächtlich, »nein – die sind keine sehr schätzbare Streitmacht. Aber lassen Sie mich Ihnen geradaus erzählen, daß sie präzis gegen unser bescheidenes Vermögen taxiert sind. Wir sind so winzig wenig, mein lieber Junge, in Sonntags Universum. Er hält alle Kabel und Telegraphenlinien besetzt. Den Allerhöchsten Rat aber umzuwerfen, das ist ihm dagegen eine so triviale Sache wie eine Korrespondenzkarte. Das überläßt er ruhig seinem Privatsekretär –« und er spuckte ins Gras.
Dann wandte er sich an alle und meinte ziemlich säuerlich:
»Wir sind höchstwahrscheinlich samt und sonders futsch. Aber wer von Ihnen sich noch etwa für das Gegenteil zu erwärmen vermag – dem rate ich schleunigst mir zu folgen.«
Und mit diesen Worten wandte er seinen breiten Rücken und sprach nicht ein Wort mehr, sondern machte lange energische Schritte gegen den Wald zu. Und da warfen all die übrigen noch einen Blick scheel über die Achsel zurück und sahen, wie die schwarze Wolke all der Männer sich von der Station da drüben loslöste und mit einer mysteriösen Disziplin über die Ebene herstrebte. Und sahen noch, mit unbewaffnetem Auge, schwarze Flecken auf den vordersten Gesichtern – und das waren die Masken, die sie aufhatten. Und … wandten sich dann gleichfalls und folgten ihrem Führer, der den Wald fast erreicht hatte … und verschwanden unter dem blitzenden Laub.
Die Sonne über dem Gras war trocken und heiß. Wie sie in den Wald eintauchten, tauchten sie in kühlen Schatten ein, so wie ein Taucher in dunkles Wasser. Der Wald war angefüllt mit zersprengtem Sonnenlicht und irrendem Schatten. Es war als wie ein erzitternder Schleier – wie das Flimmern und Flirren und Flattern eines Kinematographen. Sogar die Gestalten, die mit Syme hinschritten, waren kaum mehr zu unterscheiden vor dem Lichtgepladder und Schattengewirbel. Jetzt – jetzt eben war der Kopf irgendeines der Herren angeleuchtet wie mit Rembrandtschem Licht und alles übrige wie ausradiert; jetzt wieder hatte einer ganz ganz weiße Hände und das Gesicht dabei von einem Schwarzen. Der Ex-Marquis hatte seinen alten Strohhut über die Augen herabgezogen und der schwarze Schatten der Krempe schnitt sein Gesicht so winkelrecht ab, als trüge er so wie seine Verfolger eine schwarze Halbmaske. Das war Futter für Symes längst schon überheizte Nerven. Trug jener eine Maske? Trug jeder eine Maske? War jeder irgendwer? … Dieser Zauberwald, in dem die Gesichter abwechselnd schwarz und weiß wurden, in dem die Gestalten im Sonnenlicht anschwollen und dann wieder in formlose Nacht sich auflösten, dieses chaotische Helldunkel (nach der Prügelsonne von draußen) schien Syme ein erschöpfendes Symbol für die Welt, in der er seit drei Tagen schon hin und her geworfen wurde, für die Welt, darin Männer ihre Bärte oder Brillen oder Nasen abnahmen und sich in ganz andere Menschen verwandelten. Das tragische Selbstvertrauen, das ihn erfüllte, als er glaubte, daß der Marquis ein Teufel sei, war seltsamlich geschwunden nun, da er wußte, daß der Marquis ein Freund war. Und er hätte am liebsten nach all den Entsetzensszenen nun gefragt: was denn eigentlich ein Freund sei und was ein Feind. War da irgend etwas, das gar nicht das war, was es schien? Der Marquis hatte nur seine Nase abgenommen – und schon war er ein Detektiv gewesen. Konnte er nicht gerad so gut jetzt seinen Kopf abnehmen – und ein Kobold sein? War nicht jedes Ding am Ende so wie dieser Irrgarten von einem Wald, wie dieser Tanz von Dunkel und Licht? Jedes Ding nur ein flüchtiger Schimmer und Schein, und jeder Schimmer unvorhergesehen und jeder Schein danach vergessen…
Gabriel Syme hatte im Herzen dieses sonndurchsprengten Waldes gefunden, was manche moderne Maler drin gefunden haben. Das, was die modernen Menschen Impressionismus nennen, was nur ein anderer Name für den endgültigen Skeptizismus ist, der gefunden zu haben behauptet – das Universum sei bodenlos…
Wie ein Mensch, der einen schlimmen Traum hat, sich heftig anstrengt, laut aufzuschreien und zu erwachen, strengte sich Syme ganz plötzlich mächtig an, diese letzte und schlimmste von all seinen Wahnvorstellungen abzuschütteln. Mit zwei ungestümen Schritten holte er den