Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle

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Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch - Arthur Conan Doyle

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Herr Scholto,« beruhigte ihn Holmes. »Ich glaube, daß ich mich verpflichten kann, Ihre Unschuld zu beweisen.«

      »Versprechen Sie nicht zu viel, Herr Theoretiker; versprechen Sie nicht zu viel,« fuhr der Detektiv auf. »Sie möchten es doch schwieriger finden, als Sie denken.«

      »Ich werde nicht allein die Anklage entkräften, sondern ich will Ihnen auch den Namen und die Beschreibung von einem der beiden Leute zum besten geben, die gestern abend in diesem Zimmer waren. Ich habe alle Ursache zu glauben, daß er Jonathan Small heißt. Er ist ein ungebildeter Mann, klein von Gestalt und gelenkig, ihm fehlt das linke Bein und er trägt einen Stelzfuß, dessen innere Seite abgescheuert ist. Sein rechter Stiefel hat eine grobe, vierkantige Sohle und einen eisernen Beschlag um den Absatz. Er ist in mittleren Jahren, sonnverbrannt und ist ein Sträfling gewesen. – Diese wenigen Andeutungen werden Ihnen vielleicht von Nutzen sein; auch mache ich Sie noch darauf aufmerksam, daß ihm ein gutes Teil Haut auf der Handfläche fehlt. Der andere Mann –«

      »Oha, der andere Mann?« fragte Athelney Jones mit höhnischer Stimme, obgleich ihn diese genauen Angaben, wie sich leicht merken ließ, höchlich in Erstaunen gesetzt hatten.

      »Ist eine ziemlich merkwürdige Persönlichkeit,« versetzte Sherlock Holmes, indem er sich auf dem Absatz umwandte. »Ich hoffe binnen kurzem in der Lage zu sein, Sie dem Paare vorzustellen. Auf ein Wort, Watson.«

      Er führte mich hinaus bis auf den Treppenabsatz.

      »Wir haben über diesem unerwarteten Ereignis den ursprünglichen Zweck unserer Fahrt ganz aus dem Gesichte verloren,« sagte er.

      »Daran dachte ich eben; es ist nicht in der Ordnung, daß Fräulein Morstan noch länger in diesem Unglückshaus verweilt.«

      »Nein. – Sie müssen die Dame nach Hause begleiten. Sie wohnt bei Frau Cäcilie Forrester in Nieder-Camberwell – das ist nicht weit. Ich warte hier auf Sie, wenn Sie mit mir zurückfahren wollen – oder sind Sie vielleicht müde?«

      »Durchaus nicht. Ich würde keine Ruhe finden, bevor ich mehr von dieser abenteuerlichen Angelegenheit weiß. Zwar habe ich das Leben schon früher von seiner dunkeln Seite kennen gelernt, aber ich gestehe, daß die erschütternden Erlebnisse dieses Abends meine Nerven stark aufgeregt haben. Trotzdem würde ich gerne mit Ihnen der Sache auf den Grund kommen, nun ich mich einmal damit befaßt habe.«

      »Für mich wird Ihre Gegenwart von großem Wert sein,« antwortete Holmes. »Wir beide wollen den Fall allein durchführen und den klugen Jones seinen Hirngespinsten überlassen. Wenn Sie Fräulein Morstan an ihrem Hause abgesetzt haben, so fahren Sie, bitte, nach der Pinchinstraße Nro. 3, nicht weit vom Ufer bei Lambeth. Im dritten Haus rechter Hand ist ein Laden mit ausgestopften Tieren. Sie werden im Fenster ein Wiesel sehen, das ein junges Kaninchen in den Krallen hält. Klopfen Sie den Ausstopfer, den alten Sherman, heraus. Ich lasse mich ihm empfehlen, und er soll mir unverzüglich den Toby schicken. Sie müssen den Toby zugleich in der Droschke mitbringen.«

      »Ein Hund, wie ich vermute?«

      »Ja, ein sonderbarer Mischling mit ganz erstaunlichem Spürsinn. Mir ist Tobys Beistand lieber als die Hilfe der ganzen Geheimpolizei von London.«

      »Gut, ich bringe ihn. Es ist jetzt ein Uhr. Wenn der Kutscher schnell fährt, sollte ich vor drei Uhr wieder hier sein können.«

      »Unterdessen,« sagte Holmes, »will ich noch Frau Bernstone ausfragen und den indischen Diener, der, wie mir Thaddäus sagt, hier nebenan in der Kammer schläft. Auch kann ich die Methode des großen Jones studieren und seinen nicht allzu zarten Stichelreden lauschen. Ja, ja – wir sind gewohnt, ›daß die Menschen verhöhnen, was sie nicht verstehen.‹ – Goethe trifft doch immer ins Schwarze.«

      7. Toby auf der Fährte.

       Zurück

      Ich brachte Fräulein Morstan in der Droschke nach Hause, in welcher die Polizei gekommen war. Nach edler Frauen Art hatte sie alles Ungemach ertragen, so lange es galt, jemand beizustehen, der hilfloser war als sie selbst, und so hatte ich sie heiter und gelassen neben der verstörten Haushälterin gefunden. Im Wagen aber fühlte sie sich zuerst schwach und brach dann in einen Strom von Thränen aus – das Abenteuer der Nacht hatte ihre Kräfte erschöpft. Sie hat mir später gesagt, daß ich ihr bei der Fahrt kalt und zurückhaltend erschienen sei. Von dem Kampf in meiner Brust, von der Selbstüberwindung, die es mich kostete, ahnte sie nichts. Mitgefühl und Liebe stürmten auf mich ein; ich fühlte, daß Jahre des gewöhnlichen, gesellschaftlichen Verkehrs mir keinen so tiefen Einblick in ihre tapfere und dabei so echt weibliche Natur hätten gewähren können, als es dieser eine Tag mit seinen seltsamen Erlebnissen gethan. Aber kein Wort der Zuneigung kam über meine Lippen. Sie war schwach und hilflos, in Nerven und Gemüt stark erschüttert. Ihr in solchem Augenblick meine Liebe aufdringen, hieße ihren Zustand mißbrauchen. Schlimmer noch – sie war reich. Wenn Holmes’ Nachforschungen sich erfolgreich erwiesen, wurde sie eine Erbin. Wäre es rechtschaffen, wäre es ehrenhaft gewesen, wenn ein Militärarzt auf halbem Sold Vorteil aus einer Vertraulichkeit gezogen hätte, welche der Zufall veranlaßte? Müßte sie mich nicht für einen gemeinen Glücksjäger ansehen? Ich konnte den Gedanken nicht ertragen; wie eine unübersteigliche Mauer lag der Agra-Schatz zwischen uns.

      Es schlug bereits zwei Uhr, als wir bei Frau Forrester anlangten. Die Dienerschaft hatte sich schon vor mehreren Stunden zurückgezogen; nur die Frau des Hauses war noch wach, Fräulein Morstans Rückkehr erwartend. Die ganze seltsame Angelegenheit hatte Frau Forrester so sehr beschäftigt, daß sie keine Ruhe fand. Sie öffnete uns selbst die Thür, und es machte mir Freude zu sehen, wie zärtlich sie den Arm um die Heimgekehrte schlang, mit wie mütterlicher Stimme sie dieselbe begrüßte. Sie war ihr offenbar keine bezahlte Untergebene, sondern eine hochgeschätzte Freundin. Frau Forrester, eine anmutige Dame in mittleren Jahren, forderte mich dringend auf, einzutreten und unsere Abenteuer zu erzählen. Ich erklärte indessen, daß ich einen wichtigen Auftrag habe und versprach wiederzukommen und über den weitern Verlauf der Sache getreulich zu berichten. Beim Abfahren warf ich noch einen flüchtigen Blick zurück. Das behagliche Heim, die beiden Frauengestalten auf der Schwelle, die halboffene Thür, das Licht aus der Vorhalle, das durch gefärbte Scheiben auf sie fiel – es war ein anmutiges Bild, das mich begleitete und wohlthuend beruhigte inmitten der wilden, dunkeln Erlebnisse, die mich so völlig eingenommen hatten.

      Je mehr ich über die ganze Begebenheit nachdachte, um so verwirrter und düsterer wurde sie. Während die Droschke mit mir durch die stillen, gasbeleuchteten Straßen dahinrasselte, rief ich mir noch einmal alle Einzelheiten ins Gedächtnis. Das ursprüngliche Problem war jetzt so ziemlich gelöst. Der Tod Hauptmann Morstans, die Uebersendung der Perlen, die Zeitungsanzeige, der Brief – über dies alles waren wir nun aufgeklärt, aber es hatte uns nur zu einem noch rätselhafteren und schrecklicheren Geheimnis geführt. Der indische Schatz, der seltsame Grundriß, der in Morstans Brieftasche gefunden worden, die Szene beim Tode des Majors Scholto, die Wiederauffindung des Schatzes, auf welche unmittelbar die Ermordung des Entdeckers gefolgt war, die merkwürdigen Indizien, von denen das Verbrechen begleitet war, die Fußspuren, die fremdartige Waffe, das Zeichen der Vier auf dem Grundriß und dieselben Worte auch jetzt wieder auf dem Stück Papier – in der That ein verzweifeltes Labyrinth, aus dem nur Holmes mit seiner eigenartigen Begabung hoffen durfte, sich herauszufinden. Die im untern Teil von Lambeth gelegene Pinchin-Gasse bestand meist aus unansehnlichen, zweistöckigen Ziegelhäusern. Ich klopfte bei Nro. 3 längere Zeit, aber ohne Erfolg. Endlich zeigte sich indessen ein Lichtschein hinter dem Vorhang und ein Gesicht guckte aus dem oberen Fenster.

      »Fort mit Euch, betrunkener

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