Mami Staffel 2 – Familienroman. Gisela Reutling

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Mami Staffel 2 – Familienroman - Gisela Reutling Mami Staffel

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stöhnte Gritli eine halbe Stunde später, als sie auf ihrem Heimweg aus dem Schatten des Tunnels wieder in die Sonne trat. Bestimmt war der Brief der Frau Lehrerin schuld daran, wenn der Ranzen heute schwerer war. Sie ließ ihn von den Schultern gleiten und zog das dunkle Shirt aus. Dann sah sie zum Himmel. Klar, er hing voller schwerer Wolken.

      Sie stapfte weiter bergauf. »Der Wind läßt’s goldene Korn heut wogen«, wiederholte sie das Gesicht. »Der Bauer führt d’ Sens im weiten Bogen…«

      Sie konnte es also immer noch. Wenn die blöde Frau Lehrerin sie nicht drangenommen hatte, war die doch selbst schuld! »Eine Hexe ist die Frau Lehrerin«, beruhigte Gritli sich selbst. »Eine arge Hex. Der Onkel Sepp hat ’s auch gesagt.«

      Das war reichlich übertrieben, tat ihrem schlechten Gewissen aber sehr gut. Nach einer Weile blieb sie stehen. Sie mußte gegen die Sonne anblinzeln, die noch mal zwischen den Wolken hinabschaute, um zu erkennen, welches Auto auf sie zu und die Serpentinen hinabbrauste. Nun bog es schon um die Haarnadelkurve.

      »Oih, oih!« machte Gritli und winkte, denn sie erkannte Inge Scholz am Steuer des kleinen roten Wagens. Der Platz neben ihr war leer, und Inge Scholz hielt an.

      »Fahren Sie jetzt gescheite Schuh kaufen?« fragte Gritli vorwitzig.

      Inge schüttelte den Kopf und reichte ihr die Hand.

      »Mach ’s gut, Gritli. Ich fahre zurück nach München.«

      Gritli blieb der Mund offenstehen. »Jetzt schon? Und Clara?«

      Inge verzog ihren Mund. »Die bleibt bei deinem Onkel Sepp.«

      »Ist… ist das wahr?« Fast hätte Gritli einen Freudensprung gemacht.

      Inge legte schon wieder einen Gang ein. »Das mußt du sie selbst fragen. Mich geht das nichts mehr an.«

      Gritli zeigte zum Himmel. »Aber es kommen noch schöne Tage. Da könnt ihr aufs Felshorn. Am Sonntag kann ich auch mit. Und wenn’s dann doch schüttet, führ ich euch zur Sennhütt’n, damit euch nichts geschieht!«

      Inge lachte spöttisch. »Ach, red doch keinen Schmarr’n! Clara will doch nur mit dem Sepp allein sein. Dich oder mich braucht sie nicht mehr.«

      Gritli sah ihr mit gerunzelter Stirn nach. Was war davon zu halten? Blieb Carla Baumbeer etwa für immer? War das das erflehte Wunder?

      Während sie darüber nachdachte, fiel ihr wieder der Brief für Onkel Sepp ein. Hatte er den gelesen, gab’s gewiß ein Donnerwetter, gegen das ein Bergsturm nur ein Kinderspiel war. Onkel Sepp würde toben und sich von seiner schlechtesten Seite präsentieren. Und dann! Wenn Clara sich dann von ihm abwandte und auch zurück nach München fuhr?

      Gritli sah den Hang hinab, wo das rote Auto von Inge Scholz bald im Tunnel verschwinden mußte. Genauso mußte auch der Brief der Frau Lehrerin verschwinden, dann konnte er kaum noch Unheil anrichten!

      *

      Der hochgewachsene Mann, der an der Bushaltestelle im Dorf Wesing ausstieg, atmete die regenfrische Luft genießerisch ein. Dann schulterte er seinen schweren Ledersack und ging gemächlich auf den Dorfkrug zu. Sein Blick strich dabei über die Häuser, blieb etwas länger auf dem neuen Supermarkt haften und glitt dann schnell zur Kirche hinüber.

      Thilo Heimhofer schob den Besuch am Grab seiner Frau auf. Er mußte erst seinen Durst löschen. Im ›Krug‹ saßen nur drei alte Männer, die neugierig die Köpfe hoben, als der Fremde eintrat. Er war anders gekleidet als die Leute im Dorf. Blankgeputzte Stiefel und sehr schmal geschnittene Jeans trug er. Darüber hing ihm ein buntkariertes Hemd, und am Hals blitzte ein weißes Shirt hervor. Das ungewöhnlichste aber waren die blondzerzausten Locken, die nicht so recht zu dem schmalen, herben Gesicht passen wollten.

      Thilo trat an die Theke und bat um ein Bier. Der Wirt sah ihn forschend an, schob ihm dann aber wortlos das Gewünschte hin.

      »Sie können sich setzen«, schlug er nach einer Weile vor. Thilo dankte lächelnd, blieb aber stehen.

      Daß der Wirt ihn nicht erkannte, kränkte ihn nicht. Es war nicht gut, wenn sich alle im Dorf gleich das Maul über ihn zerrissen. Ihm standen genug unangenehme Begegnungen bevor, nach denen er erst mal mit sich selbst ins reine kommen mußte. Warum sollte er Fragen ertragen, auf die er selbst noch keine Antwort wußte?

      »Einen schönen Ledersack haben Sie da«, wollte der Wirt nun doch ein Gespräch beginnen. »Deutsche Wertarbeit?«

      »Nein, den hab ich in Las Vegas gekauft.« Ein ehrfurchtsvolles Staunen legte sich auf das Gesicht des Gastwirts. »Kann ich ihn eine Stunde bei Ihnen unterstellen? Ich will einen Rundgang durchs Dorf machen«, fügte Thilo höflich hinzu.

      »Dagegen ist nichts einzuwenden.«

      Thilo leerte sein Glas und verließ den ›Krug‹ so unerwartet, wie er ihn betreten hatte. Draußen blieb er eine Weile stehen. Es war still, und die Luft fühlte sich samtweich an. Vor Stunden mußte es geregnet haben. Tante Theres hatte den Regen bestimmt angekündigt und Sepp darauf vorbereitet, damit der das Heu oben auf der Alm rechtzeitig ins Trockene brachte. Der zweite Heuschnitt war nie so ergiebig wie der erste im Juni, aber auf dem Hof oben brauchten sie eben jeden Halm als Futter für den Winter.

      Thilo schlenderte zur Kirche hinüber und zu Hannerls Grab auf dem Friedhof. Als er das Datum ihres Todes auf dem Grabstein las, wurde ihm plötzlich wieder bewußt, wie lange er fort gewesen war. Wie alt war seine Tochter jetzt? Schon im nächsten Winter wurde sie acht. Wie seltsam, daß er sie sich immer noch als Baby vorstellte! Wollte oder konnte er nicht begreifen, daß er sie fast sieben Jahre allein gelassen hatte?

      Ein Gefühl der Scham legte sich auf sein Herz. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar wie ein verlegener Schulbub, den man bei einer Lüge ertappt hatte. Und so war es wohl. Er belog und betrog sich seit Jahren. Auch wenn er sich einredete, für sein Kind würde schon gut gesorgt, und auf einen unfähigen Vater wie ihn könne so ein kleines Mädchen wie Gritli sowieso leicht verzichten.

      Als er sich abwenden wollte, fiel sein Blick auf ein Steinkreuz neben Hannerls Grab. Thilo stutzte, dann trat er näher heran, um die Schrift darauf besser entziffern zu können. Die in den Stein gemeißelten Buchstaben waren noch nicht nachgedunkelt wie bei den älteren Gräbern.

      »Therese Buchholzer«, las er und der Schrecken fuhr ihm kalt über den Rücken. »Tante Theres…«, stammelte er. »Gestorben am 24. März dieses Jahres.«

      Tante Theres, die älteste Schwester von Agnes war achtzig geworden. Er sah sie vor sich mit ihrem sanften Lächeln und den flinken braunen Augen, die ihn seit seiner Kindheit begleitet hatten und von beständiger Neugier und wachsender Weisheit gesprochen hatten. Aber der Schmerz über den neuerlichen Verlust setzte ihm so zu, daß er niederkniete.

      Als er sich aufrichtete, wußte er, daß seine Wanderjahre hier, zwischen den Gräbern hinter der Kirche, endgültig zu Ende gingen. Jetzt, da es Tante Theres nicht mehr gab, konnte und durfte er sich der Verantwortung für sein Kind nicht mehr entziehen.

      Minuten später trat er in die Kirche. Auf der Tafel rechts hinter den Bänken waren die Eheschließungen eingezeichnet. Thilo prüfte jede Eintragung, nur entdeckte er den Namen Sepp Heimhofer nicht. Das machte eine vage Hoffnung in ihm zunichte. Sein Bruder hatte also nicht geheiratet. Von der ständigen Übellaunigkeit der verwitweten Mutter aufgerieben, wagte der ja nicht mal einen Abend im Wirtshaus zu verbringen. Und welche Frau sollte das Leben oben auf dem Bergbauernhof ertragen, wenn nicht

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