Mami Staffel 2 – Familienroman. Gisela Reutling
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Es kam ein Hoch von Osten und auch eine warme, feuchte Strömung von Süden, und zwischendrin strahlte noch einmal die Sonne mit aller Kraft, bevor sie im Westen unterging. In dieser Nacht würde es sich nämlich entscheiden, ob sich das Hoch gegen die südliche Strömung durchsetzen konnte. Diese Wetterlage war selten und schwer einzuschätzen. Tante Theres hatte es ihr immer wieder erzählt.
»Hallo, Gritli!«
Clara saß in der Dämmerung vor dem Häuschen. Auf dem Tisch standen drei Kerzen, deren Flackern ihr beim Stricken Licht spendeten. Gritli schleppte die Milchkannen heran und trat neugierig näher. Sie hatte noch nie einer Frau beim Stricken zugesehen.
»Deine Schuhe sehen ja prächtig schmutzig aus«, schmunzelte Clara und ließ das Strickzeug sinken. »Warst etwa wieder oben auf dem Felshorn, bevor du die Milch vom Sepp geholt hast? Die Kannen sind aber nicht so schwer wie morgens, wie?«
Gritli zog die Nase kraus und lachte. »Das hast schon begriffen. Die frühe Milch wird unten an der Straße von der Molkerei abgeholt, nur die späte Milch wird Käse. Nein, auf dem Felshorn war ich lange nicht. Wenn, dann geh ich mit dir. Mußt nur richtige Schuh dazu haben!«
Schon faszinierten sie die beiden Nadeln mit der grauen Wolle. War sie vorlaut gewesen? Wie sollte Clara sich denn richtige Bergstiefel kaufen? Die gab’s nur in Oberau, und Inge Scholz war doch mit dem Wagen weggefahren. Nahm Onkel Sepp Clara mit nach Oberau, würde die Großmutter in die Luft gehen vor Zorn. War nicht schon alles übel genug, seitdem Inge frühzeitig zurück nach München verschwunden war? Gritli dachte flüchtig an den Brief, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder. Der lag gut unter der Madonna auf der Kommode. Dort fand ihn keiner.
»Aber ich hab schon richtige Bergstiefel«, schmunzelte Clara.
»Das glaub ich dir nicht. Woher denn?«
Wie lieb Clara schaute, wenn sie dazu noch mit einem Auge zwinkerte! »Wenn du ’s nicht weitersagst, verrat ich ’s dir.«
Gritli hob die rechte Hand. Das hatte sie sich von Karli und Kurti abgeguckt, obwohl die sie nie an ihren Bubenspielen auf dem Schulhof mitmachen ließen. »Großes Indianer-Ehrenwort.«
Clara beugte sich vor. »Dein Onkel Sepp hat sie vom Speicher geholt«, flüsterte sie. »Sie gehörten deiner Mami, dem Hannerl, und er meint, du hast nichts dagegen, wenn ich sie trage. Sie passen wie angegossen.«
Gritli schluckte. »Meine Mami hat Bergstiefel gehabt?« staunte sie. Ihr wurde plötzlich bewußt, wie wenig man ihr von ihrer Mutter erzählte. Mehr, als daß sie bei ihrer Geburt gestorben war, hatte sie nie erfahren. Und war das nicht bitter genug für ein einsames Kind wie sie?
»Hat er auch die Wolle in der Truhe auf dem Speicher gefunden?« fragte sie leise mit angespannten Gesichtszügen. Clara nahm ein Knäuel, legte es auf den Tisch und beugte sich dann vor, bis sie Gritlis Arm berühren konnte.
»Ja, das hat er. Meinst du, sie gehörte auch deiner Mami?«
»Ich weiß nichts von meiner Mami.«
»Du weißt nichts? Ja, erzählt dir keiner von ihr, wenn du fragst?«
»Nur wenig. Sie hat ’s nicht geschafft, als ich geboren wurde.«
»Wahrscheinlich hat die Wolle tatsächlich deiner Mutter gehört. Ich hoffe, du erlaubst mir, aus der Wolle eine Weste zu stricken.«
»Klar. Dann bleibst du doch noch… bis die Weste fertig ist.«
Stundenlang konnte sie dann zuschauen, wie Clara eine Masche nach der anderen geschickt von Nadel zu Nadel gleiten ließ. Sie quetschte sich neben Clara auf die schmale Bank, streckte die Füße mit den schmutzigen Stiefeln aus und lehnte sich vorsichtig an die Schulter der jungen Frau.
Clara lächelte. »Ich hab’ noch nicht mal den Bund fertig. Und es wird ja eine große Weste.«
»Für Onkel Sepp?«
»Für wen denn sonst?« kicherte Clara und neigte den Kopf, bis ihre Haare Gritlis Stirn kitzelten. »Aber sag ’s nicht weiter.«
»Ich verrat’s der Großmutter nicht. Sonst wird sie fuchsteufelswild. Und du sagst ihr gewiß auch nicht, daß ich so gern bei dir hock. Gelt?«
»Sie spricht doch kein einziges Wort mit mir.« Das klang traurig, so daß Gritli schnell weitersprach:
»Und auf’s Felshorn gehst auch nicht allein. Nicht mal mit den guten Bergstiefeln. Wenn ein Unwetter kommt, bist verloren, Clara.«
»Ich werde nicht allein sein, Gritli.«
»Versprichst mir das? Denn der Herrgott hilft dir auch nicht, wenn’s haarig wird. Das hat Tante Theres immer gesagt, als ich mich noch nicht so auf dem Gipfel auskannte. Und die Urlauber sind eh so schlimm.«
Clara lachte und winkte sie nah zu sich heran. »Dein Onkel Sepp kommt nach und begleitet mich das letzte Stück.«
»Oh, heilig’s Sakrament!« stieß Gritli aus. »Das glaub ich dir jetzt aber nicht, Clara.«
»Er geht in aller Früh’ auf die Alm. Von da aus schafft’ er ’s in einer guten Stunde bis zum kleinen Gipfel. Und dort warte ich auf ihn, so daß wir heimlich zu zweit aufs Felshorn klettern können.«
»Und das mitten in der Woche, damit Großmutter denkt, er ist im Holz? Denn feiertags, da merkt sie ’s ja!« Gritli strahlte, aber dann vedunkelte sich ihre Stirn. »Aber wenn ein Wetter niederschlägt, dann braucht er doppelt lang. Und wenn ’s dann schon zu spät für dich ist?«
»Wir werden genau beobachten, wie das Wetter wird.«
»… und aufpassen, daß die Großmutter nichts davon spannt.« Sie lächelten sich schelmisch zu, und Gritli lehnte sich an Claras Schulter, weil dort der schönste Platz auf der Welt war. »Du sollst immer bleiben, Clara. Ich versteck dich in der Truhe auf dem Speicher.« Da drückte Clara dem liebenswerten Kind einen Kuß auf die Stirn.
»Mußt nicht die Milch reinbringen, Gritli?« fragte sie nach einer Weile. »Zum Träumen bleibt dir keine Zeit.«
Gritli hörte gar nicht hin, denn sie schaute angestrengt in die Dunkelheit den Hang hinunter. Da näherte sich eine Gestalt mit einer seltsamen Last auf der Schulter. Sie kam vom Osten, wo ein besonders beschwerlicher Weg zum Hof raufführte.
»Das ist nicht der Onkel Sepp, der ist noch oben«, flüsterte Gritli sich selbst zu, als müsse sie sich diese ungewöhnliche Erscheinung erklären. Aber das reichte nicht. Sie stand von der Bank auf, aber traute sich keinen Schritt vor, weil sie glaubte, dort nähere sich ein Berggeist. Hatte Tante Theres ihr nicht oft genug von solchen Erscheinungen erzählt? Gewiß lag das an dem seltsamen Juliwetter, wenn sich solche Geister aus ihren Höhlen wagten.
Es war ein hochgewachsener Mann, der die letzte Steigung recht schnell hinter sich brachte. Nun blieb er stehen. Gritli wagte sich nicht zu rühren. Ein Frösteln überlief sie.
»Gritli?« hörte sie eine tiefe Stimme ihren Namen rufen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Warum