Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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»Er läßt es ja doch bei so vielen andern zu!«
»Nein, nein! Gott wird sie davor bewahren!« wiederholte sie ganz außer sich.
»Aber vielleicht gibt es überhaupt keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit einer Art von Schadenfreude, lachte auf und sah sie an.
Auf Sonjas Gesichte ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor; krampfhafte Zuckungen liefen darüber hin. Ein unbeschreiblicher Vorwurf lag in dem Blicke, mit dem sie ihn ansah; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen; sie brach nur in ein bitterliches Schluchzen aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Sie sagen, bei Katerina Iwanowna sei der Verstand gestört; aber auch Ihr eigener Verstand ist gestört«, sagte er nach einem kurzen Schweigen.
Es vergingen fünf Minuten. Er ging die ganze Zeit über schweigend auf und ab, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen funkelten. Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade in das von Tränen überströmte Gesicht. Seine trockenen, heißen Augen blickten scharf und durchdringend; seine Lippen zuckten heftig … Plötzlich beugte er sich mit dem ganzen Leibe nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren Fuß. Sonja wankte erschrocken von ihm wie von einem Wahnsinnigen zurück. Und er sah auch wirklich völlig wie ein Wahnsinniger aus.
»Was ist Ihnen? Was tun Sie da? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Er erhob sich sofort wieder.
»Nicht vor dir habe ich meine Knie gebeugt, sondern vor dem ganzen unendlichen Leide der Menschheit«, sagte er wie in wildem Ingrimm und trat ans Fenster. »Höre«, fügte er hinzu, als er einen Augenblick darauf zu ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem Verleumder gesagt, daß er nicht soviel wert ist wie dein kleiner Finger … und daß ich heute meiner Schwester eine Ehre angetan habe, indem ich sie neben dir sitzen ließ.«
»Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können! Und etwa gar in Gegenwart Ihrer Schwester?« rief Sonja erschrocken. »Neben mir sitzen! Eine Ehre! Aber ich bin ja eine … Ehrlose … Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können!«
»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich das von dir gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, das ist die Wahrheit«, fügte er in schwärmerischem Tone hinzu. »Und ganz besonders bist du deshalb eine Sünderin, weil du dich nutzlos getötet und zum Opfer gebracht hast. Ist das nicht gräßlich? Ist das nicht gräßlich, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so hassest, und gleichzeitig selbst weißt (du brauchst ja nur die Augen zu öffnen), daß du niemandem dadurch hilfst, niemand aus seinem Elend errettest! Ja, ich bitte dich um alles in der Welt«, rief er beinahe wütend, »sage mir doch nur: wie kann solche Schande und Gemeinheit in deiner Seele neben andern, ganz entgegengesetzten, heiligen Empfindungen Raum finden? Da wäre es doch richtiger, tausendmal richtiger und vernünftiger, kopfüber ins Wasser zu springen und mit einem Schlage alledem ein Ende zu machen!«
»Aber was soll dann aus den andern werden?« fragte Sonja leise und blickte ihn mit schmerzlichem Ausdrucke an; verwundert schien sie aber über seinen Vorschlag ganz und gar nicht zu sein. Raskolnikow sah sie in seltsamer Weise prüfend an.
Schon allein in ihrem Blicke hatte er alles gelesen. Also sie hatte tatsächlich diesen Gedanken bereits selbst gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oftmals und ernstlich überlegt, wie sie ihrem Elende mit einem Schlage ein Ende machen könne, so ernstlich, daß sie sich jetzt über seinen Vorschlag weiter nicht wunderte. Selbst die Grausamkeit seiner Worte war ihr nicht zum Bewußtsein gekommen; auch der Sinn seiner Vorwürfe und seine besondre Auffassung von ihrer Schande war ihr offenbar unklar geblieben; auch das durchschaute er. Er seinerseits aber begriff vollständig, welche Folterqualen, und zwar schon seit langer Zeit, ihr der Gedanke an ihre ehrlose, schmähliche Lage bereitete. ›Was in aller Welt‹, dachte er, ›was hat sie bisher zurückhalten können, alledem mit einem Schlage ein Ende zu machen?‹ Er hatte erst jetzt völlig verstanden, welch eine Bedeutung für dieses Mädchen diese armen, kleinen, vaterlosen Kinderchen hatten und diese bedauernswerte, halb irrsinnige, schwindsüchtige Katerina Iwanowna, die mit dem Kopfe gegen die Wand schlug. Aber nicht minder klar war es ihm, daß Sonjas Charakter und die freilich nur mäßige Bildung, die sie genossen hatte, ihr hatten ein Antrieb sein müssen, sich aus dieser Lage zu befreien. So war für ihn immer noch nicht die Frage beantwortet: wenn sie nicht die Kraft hatte, sich ins Wasser zu stürzen, wie hatte sie so lange schon in dieser Lage verbleiben können, ohne den Verstand zu verlieren? Gewiß, er sah ein, daß Sonjas Lage eine Erscheinung war, wie sie nur gelegentlich in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vorkommt, wiewohl leider keineswegs nur ganz vereinzelt und ausnahmsweise. Aber gerade diese Besonderheit der Lage, diese wenn auch nur geringe Bildung und ihr ganzes Vorleben hätten sie doch, meinte er, gleich beim ersten Schritte auf diesem abscheulichen Wege zum Selbstmorde führen müssen. Was hielt sie denn im Leben zurück? Doch wahrlich nicht die Unzucht? Mit dieser ganzen Gemeinheit hatte sie offenbar nur physisch zu schaffen gehabt; in ihr Herz hatte noch kein Atom der wirklichen Unzucht Eingang gefunden. Das sah er; sie stand ja vor ihm wie aus Glas …
›Drei Wege hat sie vor sich‹, dachte er, ›sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen oder … oder der wirklichen Unzucht zu verfallen, die den Verstand betäubt und das Herz gefühllos macht.‹
Die letzte von diesen drei Möglichkeiten war ihm am widerwärtigsten; aber er war bereits Skeptiker, er war jung, ein abstrakter Denker und somit Pessimist, und daher konnte er nicht umhin zu glauben, daß dieser letzte Ausgang, das heißt die Unzucht, am meisten Wahrscheinlichkeit habe.
›Aber soll denn wirklich‹, rief er in Gedanken aus, ›soll denn wirklich dieses Wesen, das sich die Reinheit der Seele noch bewahrt hat, sich mit sehenden Augen schließlich in diesen greulichen, stinkenden Pfuhl hineinziehen lassen? Hat dieser Prozeß vielleicht schon begonnen, und hat sie wirklich ihren Zustand nur deswegen bisher ertragen können, weil ihr das Laster nicht mehr so widerwärtig erscheint? Nein, nein, das kann nicht sein!‹ rief er ähnlich wie vorhin Sonja. ›Nein, was sie von dem Sprunge in den Kanal bisher zurückhielt, das war der Gedanke an die Sündhaftigkeit des Selbstmordes und der Gedanke an jene andern. Und wenn sie bisher noch nicht den Verstand verloren hat … Aber wer sagt denn das, daß sie den Verstand bisher noch nicht verloren hat? Hat sie denn noch ihren gesunden Verstand? Kann man etwa bei gesundem Verstande so urteilen, wie sie es tut? Wie kann sie denn so am Rande des Verderbens, dicht am Rande dieses stinkenden Pfuhles sitzen, in den eine geheime Gewalt sie schon hineinzieht, und abwinken und sich die Ohren zustopfen, wenn sie jemand auf die Gefahr aufmerksam macht? Was will sie denn? Erwartet sie ein Wunder? Das scheint sie wirklich zu tun. Sind das nicht lauter Anzeichen geistiger Störung?‹
Hartnäckig verblieb er bei diesem Gedanken. Dieser Ausgang gefiel ihm sogar besser als jeder andre. Er betrachtete sie schärfer.
»Du betest wohl viel zu Gott, Sonja?« fragte er sie.
Sonja schwieg; er stand neben ihr und wartete auf ihre Antwort.
»Was wäre ich ohne Gott?« flüsterte sie schnell mit sicherer Stimme, blickte ihn einen Augenblick mit aufleuchtenden Augen an und drückte ihm fest die Hand,
›So ist es also!‹ dachte er.
»Und was empfängst du denn von Gott dafür?« examinierte er sie weiter.
Sonja schwieg lange, als wäre sie nicht imstande zu antworten. Ihre schwächliche Brust hob und senkte sich stark vor Aufregung.
»Seien Sie