Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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»Alles gibt er mir!« flüsterte sie hastig und schlug wieder die Augen nieder.
›Das ist der Weg, den sie einschlägt; das ist die Lösung der Frage‹, sagte er sich mit voller Bestimmtheit im stillen und musterte sie mit brennendem Interesse.
Mit einem neuen, eigentümlichen, beinahe physisch schmerzhaften Gefühle schaute er auf dieses blasse, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, auf diese sanften blauen Augen, in denen ein solches Feuer, ein so starker, energischer Affekt aufleuchten konnte, auf diesen schmächtigen Körper, der noch vor Entrüstung und Zorn bebte, und dies alles kam ihm immer seltsamer vor, beinahe unmöglich. ›Eine Gottesnärrin!‹ sagte er sich überzeugt und bestimmt.
Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal bei seinem Hin-und Hergehen hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es in die Hand und besah es. Es war das Neue Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war in Leder gebunden, aber schon alt und abgenutzt.
»Wo hast du das her?« rief er ihr von der entfernten Ecke des Zimmers aus zu.
Sie stand noch immer an derselben Stelle, drei Schritte vom Tische entfernt.
»Es hat es mir jemand gebracht«, antwortete sie, anscheinend nur ungern und ohne ihn anzusehen.
»Wer hat es dir gebracht?«
»Lisaweta. Ich hatte sie darum gebeten.«
›Lisaweta! Seltsam!‹ dachte er.
Hier bei Sonja kam ihm alles mit jedem Augenblicke seltsamer und wunderbarer vor. Er trug das Buch zu der Kerze hin und fing an, darin zu blättern.
»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.
Sonja blickte hartnäckig auf den Fußboden und antwortete nicht. Sie stand von dem Tische halb abgewendet.
»Die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus, wo ist die? Suche sie mir, Sonja.«
Sie sah mit schrägem Blicke nach ihm hin.
»Sie suchen an der falschen Stelle … Im Evangelium des Johannes …«, flüsterte sie in strengem Tone, ohne zu ihm zu treten.
»Such es und lies es mir vor«, sagte er und setzte sich hin; einen Ellbogen auf den Tisch aufsetzend, den Kopf in die Hand stützend und finster zur Seite starrend, machte er sich fertig, zuzuhören.
›In drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich werde wohl auch da sein, wenn mir nicht noch Schlimmeres widerfährt‹, murmelte er vor sich hin.
Sonja nahm Raskolnikows sonderbares Verlangen mißtrauisch auf und trat zögernd zum Tische. Indes faßte sie nach dem Buche.
»Haben Sie es denn nicht auch schon gelesen?« fragte sie und blickte ihn über den Tisch herüber mit gesenktem Kopfe von unten her an. Der Ton, in dem sie sprach, wurde immer strenger.
»Das ist schon lange her … Als ich in die Schule ging. Lies doch!«
»Haben Sie es denn aber nicht in der Kirche gehört?«
»Nein, da bin ich nie hingegangen. Aber du gehst wohl oft hin?«
»N–nein«, flüsterte Sonja.
Raskolnikow lächelte.
»Ich verstehe … Da gehst du auch wohl morgen zu dem Totenamt für deinen Vater nicht mit hinein?«
»Doch; ich werde hineingehen. Ich bin auch vorige Woche in der Kirche gewesen, … ich habe eine Totenmesse lesen lassen.«
»Für wen denn?«
»Für Lisaweta. Die ist mit einem Beile erschlagen worden.«
Der gereizte Zustand seiner Nerven wurde immer schlimmer; der Kopf begann ihm zu schwindeln.
»Warst du mit Lisaweta befreundet?«
»Ja, … sie war fromm und rechtschaffen, … sie kam manchmal zu mir, … aber nur selten, … sie konnte nicht oft … Wir lasen zusammen und … sprachen darüber miteinander. Sie wird Gott schauen.«
Einen seltsamen Klang hatten für sein Ohr diese biblischen Worte, und schon wieder hatte er etwas Neues gehört: Sonja und Lisaweta hatten religiöse Zusammenkünfte gehabt, und beide waren Gottesnärrinnen.
›Hier kann man noch selbst so ein verrückter Heiliger werden! So etwas ist ansteckend!‹ dachte er.
»Lies!« rief er plötzlich eigensinnig und gereizt.
Sonja zögerte immer noch. Das Herz klopfte ihr heftig. Sie fand nicht den Mut dazu, ihm vorzulesen. Der Anblick der »unglücklichen Geisteskranken« schnitt ihm ins Herz.
»Was haben Sie denn davon? Sie glauben ja doch nicht daran?« flüsterte sie leise; sie konnte kaum atmen.
»Lies! Ich will es so!« wiederholte er hartnäckig. »Du hast doch deiner Freundin Lisaweta auch vorgelesen.«
Sonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Die Hände zitterten ihr; es versagte ihr die Stimme. Zweimal fing sie an und konnte das erste Wort nicht aus der Kehle bekommen.
»Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethanien«, brachte sie endlich mit Anstrengung hervor; aber hier brach ihre Stimme plötzlich mit einem unartikulierten Laute ab wie eine zu stark gespannte, zerreißende Saite. Sie bekam keine Luft, die Brust war ihr wie zusammengeschnürt.
Raskolnikow hatte bis zu einem gewissen Grade Verständnis dafür, warum es Sonja widerstrebte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so schärfer und gereizter bestand er auf seinem Verlangen. Er verstand recht wohl, wie schwer es ihr jetzt werden mußte, ihr ganzes seelisches Empfinden ans Licht zu bringen und zu enthüllen. Er verstand, daß diese Gefühle in der Tat bei ihr ein wirkliches und vielleicht schon seit langer Zeit gehütetes Geheimnis bildeten, vielleicht schon im Kindesalter, schon in der Zeit, da sie noch in der Familie lebte, neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer irrsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, bei sinnlosem Geschrei und ewigen Vorwürfen. Aber gleichzeitig erkannte er jetzt, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz der Beklemmung und der Beängstigung, die jetzt beim Beginn des Lesens an ihr sichtbar waren, doch gleichzeitig selbst von dem heißen Wunsche, vorzulesen, erfüllt war, und zwar gerade ihm vorzulesen, damit er, er es höre, und gerade jetzt – mochte nachher kommen, was da wollte! … Er hatte das in ihren Augen gelesen und aus ihrer schwärmerischen Erregung geschlossen! … Sie bezwang sich, unterdrückte den Krampf in der Kehle, der ihr beim ersten Verse die Stimme geraubt hatte, und las das elfte Kapitel aus dem Evangelium des Johannes weiter vor. So gelangte sie bis zum neunzehnten Verse:
»Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.‹«
Hier hielt sie wieder inne; sie merkte, daß ihr die Stimme wieder zittern und versagen werde, und schämte sich dessen …
»Jesus spricht zu ihr: ›Dein Bruder soll auferstehen.‹ Martha spricht zu ihm: ›Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.‹ Jesus spricht zu ihr: ›Ich bin die