Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский

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genieren sich einer vor dem andern. Alle andern Leute haben immer einen Gesprächsstoff parat; die Damen zum Beispiel, … die Lebemänner zum Beispiel, die feinen Leute, alle haben sie immer etwas zum Reden, c’est de rigueur; aber Leute aus der Mittelschicht, so wie wir, sind immer verlegen und wortkarg, … ich meine: denkende Menschen. Woher mag das kommen, Väterchen? Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nichts vormachen mögen? Ich weiß es nicht. Nun, wie denken Sie darüber? Aber legen Sie doch Ihre Mütze beiseite; das sieht ja so aus, als wären Sie auf dem Sprunge fortzugehen; das macht sich ja so ungemütlich … Und ich freue mich doch so sehr …«

      Raskolnikow legte die Mütze hin, fuhr aber fort, zu schweigen und mit ernstem, finsterem Gesichte Porfirijs leeres, wirres Geschwätz anzuhören. ›Ob er wirklich durch sein dummes Geschwätz meine Aufmerksamkeit ablenken will?‹ dachte er.

      »Ich biete Ihnen keinen Kaffee an; es ist hier nicht der Ort dazu«, plauderte Porfirij ohne Unterbrechung weiter. »Aber warum sollte man nicht mal fünf Minuten mit einem Freunde zusammensitzen und sich ein bißchen zerstreuen? Und wissen Sie, alle diese dienstlichen Obliegenheiten … Aber nehmen Sie es mir nicht übel, Väterchen, daß ich immer so auf und ab wandere; entschuldigen Sie, Väterchen, ich möchte in keiner Weise unhöflich gegen Sie sein; aber es ist geradezu eine Notwendigkeit für mich, daß ich mir Bewegung mache. Ich sitze fortwährend und freue mich darum sehr, wenn ich einmal fünf Minuten lang umherwandern kann, … Hämorrhoiden, … ich habe schon immer vor, mich durch systematisches Turnen zu kurieren; man sagt, daß Staatsräte, Wirkliche Staatsräte und sogar Geheimräte mit Vergnügen Springübungen vornehmen; da sieht man, wie die hygienische Wissenschaft … in unserm Jahrhundert … ja, ja … Und was diese dienstlichen Obliegenheiten anlangt, diese Verhöre und all diese Formalitäten, … Sie erwähnten ja soeben selbst etwas von Verhören, Väterchen, … so müssen Sie wissen, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre machen manchmal den Verhörenden selbst konfuser als den Verhörten … Das war vorhin eine überaus richtige und scharfsinnige Bemerkung von Ihnen, Väterchen.« (Raskolnikow hatte keine derartige Bemerkung gemacht.) »Man wird ganz wirr im Kopfe, wahrhaftig ganz wirr! Und immer ein und dasselbe, immer ein und dasselbe, wie bei einer Maschine. Na, jetzt ist ja nun eine Reform im Werke, und da werden wir doch wenigstens andre Amtstitulaturen bekommen, he-he-he! Na, und hinsichtlich unsrer Kniffe bei der Justiz (wie Sie sich vorhin sehr geistreich ausdrückten), da bin ich voll und ganz Ihrer Ansicht. Aber sagen Sie selbst, welcher Angeklagte, und wäre es der einfältigste Bauer, wüßte das nicht, daß man anfangs mit weit hergeholten Fragen seine Vorsicht einzuschläfern sucht (um Ihren glücklich gewählten Ausdruck zu gebrauchen) und ihn dann plötzlich durch einen Knüttelschlag gerade auf den Scheitel betäuben will, he-he-he! gerade auf den Scheitel, das war ein sehr glücklicher Vergleich, dessen Sie sich da bedienten! He-he! Also da haben Sie wirklich gedacht, ich hätte vor, Sie durch die Reden von der Dienstwohnung … he-he! Was sind Sie für ein Spötter! Na, ich tu’s nicht wieder! Ach ja, dabei fällt mir ein, ein Wort gibt ja das andre, und ein Gedanke knüpft sich an den andern, Sie haben da vorhin auch von der gesetzlichen Form gesprochen, wissen Sie, in bezug auf Verhöre. Na, wozu denn immer in aller gesetzlichen Form! Wissen Sie, die gesetzliche Form ist dabei oft der reine Unsinn. Manchmal, wenn man nur so ganz freundschaftlich mit einem redet, ist das doch viel vorteilhafter. Die gesetzliche Form läuft einem ja nicht davon; gestatten Sie, daß ich Sie darüber beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die gesetzliche Form für eine Bedeutung, möchte ich Sie fragen? Durch die gesetzliche Form darf man sich, wenn man eine Untersuchung führt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen lassen. Die Tätigkeit eines Untersuchungskommissars ist doch, um mich so auszudrücken, eine freie Kunst in ihrer Art – oder so etwas Ähnliches … he-he-he!«

      Porfirij Petrowitsch hielt für einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen. Er redete immer in einem Zuge, ohne müde zu werden; bald waren es sinnlose, leere Redensarten; dann streute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwischen und geriet sofort wieder in das sinnlose Gerede hinein. Sein Hin-und Herwandern im Zimmer glich schon beinahe einem Lauf; immer schneller und schneller bewegten sich seine dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die rechte Hand hielt er auf dem Rücken; die linke schwenkte er fortwährend in der Luft umher und vollführte mit ihr allerlei Gestikulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow bemerkte plötzlich, daß er bei seinem Umherlaufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür stehenblieb, nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen schien …

      ›Wartet er vielleicht auf etwas?‹ dachte er.

      »Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht«, fuhr Porfirij wieder fort und blickte dabei Raskolnikow heiter und mit ganz besonderer Gutmütigkeit an (dieser bekam ordentlich einen Schreck darüber und setzte sich schleunigst wieder in Bereitschaft), »wirklich vollkommen recht, daß Sie sich über das Formenwesen bei der Justiz in so geistreicher Weise lustig machten, he-he! Diese unsre Kniffe, von denen manche mit solchem psychologischen Tiefsinn ausgeklügelt sind, sind höchst lächerlich, ja vielleicht sogar ganz wertlos, wenn man sich dabei zu sehr an die Form bindet. Ja, … ich komme wieder auf die gesetzliche Form zu reden: also wenn ich in einer Sache, die mir übertragen ist, den einen oder den andern für den Täter halte oder, besser gesagt, im Verdacht habe … Sie studieren ja doch Jura, Rodion Romanowitsch?«

      »Das habe ich allerdings getan.«

      »Nun also, da möchte ich Ihnen, um mich so auszudrücken, ein kleines Beispiel für Ihre zukünftige Praxis anführen – das heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie belehren zu wollen: Sie lassen ja selbst so schöne Aufsätze über Verbrechen drucken! Nein, ich möchte Ihnen nur ganz ohne solche Absicht, als einen faktischen Fall, ein kleines Beispiel anführen. Also wenn ich zum Beispiel den einen oder den andern für den Täter halte, warum soll ich, frage ich Sie, ihn vor dem richtigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings so schnell wie möglich festnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz andern Charakter, im Ernst; also warum soll ich ihm da nicht gestatten, noch ein bißchen in der Stadt spazierenzugehen, he-he-he! Nein, wie ich sehe, verstehen Sie noch nicht ganz, wie ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher auseinandersetzen: wenn ich ihn nämlich zu früh festnehme, so gebe ich ihm dadurch womöglich noch sozusagen eine moralische Stütze, he-he! Ja, Sie lachen?« (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Lippen da und wandte seinen glühenden Blick nicht einen Moment von Porfirijs Augen ab.)

      »Aber es verhält sich doch so, besonders bei gewissen Individuen; denn die Menschen sind sehr verschiedenartig, und die Hauptsache bleibt doch immer die praktische Erfahrung. Nun werden Sie mir vielleicht einwenden: die Beweisstücke! Aber angenommen, es sind Beweisstücke vorhanden, so haben doch Beweisstücke größtenteils ihre zwei Seiten, Väterchen, und ich als Untersuchungskommissar, also als schwacher Mensch, muß gestehen: ich möchte die Schlußfolgerung gern sozusagen mit mathematischer Klarheit hinstellen, damit sie so sicher ist wie zweimal zwei gleich vier und einen direkten und unbestreitbaren Beweis bildet. Wenn ich ihn aber vor der rechten Zeit festnehme (mag ich auch fest überzeugt sein, daß er es gewesen ist), so beraube ich mich vielleicht selbst der Mittel zu seiner weiteren Überführung. Inwiefern? Weil ich ihn sozusagen in eine genau bestimmte Situation hineinversetze, ihm in seelischer Hinsicht sozusagen ein Fundament gebe und ihn zur Ruhe kommen lasse; da wird er sich dann vor mir in seine Schale verkriechen: er wird sich eben endlich darüber klar, daß er Gefangener ist. So erzählt man, daß gleich nach der Schlacht an der Alma kluge Leute in Sewastopol eine Heidenangst hatten, der Feind könnte jeden Augenblick mit offener Gewalt einen Angriff machen und Sewastopol mit einem Schlage einnehmen; aber als sie sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele eröffnete, da sollen sich die klugen Leute gefreut und beruhigt haben; sie sagten sich nämlich: nun dauert die Sache mindestens noch zwei Monate; denn schneller führt eine regelrechte Belagerung nicht zur Einnahme. Sie lachen wieder, wollen mir wieder nicht glauben? Gewiß, auch Sie haben recht, haben ganz recht, ganz recht! Ich bin mit Ihnen ganz derselben Meinung: das sind lauter Einzelfälle; was ich anführte, ist tatsächlich nur ein Einzelfall! Aber, bester Rodion Romanowitsch, dabei muß man

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