WASTELAND - Schuld und Sühne. Russell Blake
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Er schüttelte den Gedanken ab und legte sie auf der Trage ab, wo er sie mit einem Stück Seil fixierte, damit sie nicht herunterfiel. Weit wollte er in der Nacht nicht reisen – wer nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs war, bettelte praktisch um einen Hinterhalt und dem ging er gern aus dem Weg.
Lucas schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel und schnalzte Tango zu. Der Hengst begann zu ziehen und Lucas war erleichtert, dass das Pferd mit dem zusätzlichen Gewicht gut zurechtkam. Sie folgten dem fallenden Flussbett, bis es Lucas an einer flachen Stelle möglich war, Tango auf den Grat zurückzulenken. Oben angekommen machte er eine Pause und suchte den Horizont mit dem Fernglas ab. Doch abgesehen von der sich auftürmenden Wolkenkette im Westen gab es nichts zu sehen. Dem Klang des Donners nach hing das Gewitter über den Bergen fest, wo es hoffentlich bleiben würde. Das würde ihnen am Morgen schlammige Pfade ersparen.
Ein Stück entfernt fand er einen Lagerplatz, an dem er schon früher übernachtet hatte. Er hatte dort freies Schussfeld und nur zwei Wege führten auf die Lichtung am Fuße eines aufragenden Felsens. Er sattelte Tango ab und streichelte sein Pferd anerkennend, bevor er es zum Grasen schickte. Tango, mittlerweile viereinhalb Jahre alt, war von Lucas aufgezogen worden. Er hing an ihm, soweit das für ein Tier überhaupt möglich war. Lucas hatte keine Sorge, dass Tango sich zu weit entfernen würde. Er zog es vor, in der Nähe der Lichtung zu bleiben, wo es zu dieser Jahreszeit reichlich Gras zu Fressen gab.
Lucas sah erst kurz nach der Frau, bevor er im Umkreis von 50 Metern Stolperdrähte zog. Er spannte sorgfältig kunststoffummantelten Draht zwischen zwei Bäumen, die den Hauptzugang einrahmten, den ein möglicher Eindringling nehmen würde. Den Vorgang wiederholte er am rückwärtigen Zugang zwischen zwei Felsen, wo er den Draht zwischen zwei solide aussehenden Jungbäumen spannte.
Er ging zurück zu der Stelle, an der die Frau auf der Trage schlief, öffnete einen der Wasserkanister und schnupperte daran, bevor er Tango Wasser anbot, der ein paar Meter entfernt genüsslich den Boden abgraste.
»Willst du auch etwas Wasser, mein Junge?«, flüsterte er und Tango trabte auf ihn zu, als hätte er verstanden. Das Pferd soff den Kanister komplett leer, was Lucas wieder einmal daran erinnerte, dass Tango am Tag mindestens zehn Gallonen Wasser benötigte. Mehr sogar, wenn er sich verausgabt hatte.
Lucas rollte seinen Schlafsack aus, legte ihn über die Frau und setzte sich neben sie. Er lauschte ihrer Atmung, was nur durch einen gelegentlichen Eulenschrei und entferntes Donnergrollen unterbrochen wurde. Lucas schob ihr eine Strähne hellbraunen Haares aus der Stirn und studierte ihre Züge im schwachen Mondlicht, das zwischen Wolkenfetzen hindurchschimmerte.
»Was hast du nur da draußen gemacht?«, murmelte er. »Eine todsichere Methode, sich umbringen zu lassen.«
Er entschied, ein kleines Feuer zu riskieren. Die Lichtung lag abgelegen zwischen hohen Felsen. Es sollte ungefährlich sein und er hatte es schon vorher getan, wenn er hier campiert hatte. Tatsächlich lag seine alte Feuerstelle nur ein paar Schritte entfernt. Nachdem er ein paar trockene Zweige gesammelt und die Steine der Feuerstelle zusammengerückt hatte, beträufelte er das Holz mit dem Geheimrezept seines Großvaters und zündete es mit einem Wegwerffeuerzeug an – eines von dreien in seinem Besitz. Es waren hochbegehrte Tauschartikel.
Das Feuer erwachte zum Leben und er beobachtete die tanzenden Flammen über dem knisternden Holz. Er kaute langsam etwas von dem Trockenfleisch, das er und sein Großvater auf ihrer Ranch herstellten und starrte gedankenverloren auf die orangefarbenen Flammenzungen, die sich in den Nachthimmel reckten.
Lucas schüttelte seine Müdigkeit ab und sah zu Tango hinüber, der längst wieder graste und die Selbstgespräche seines Herrn ignorierte. Lucas zuckte entschuldigend mit den Achseln und lehnte sich gegen den harten Felsen. Sein M4A1 lag mit montiertem Nachtzielgerät quer über seinen Knien, die Kimber ruhte an seiner Hüfte, doch seine Lider waren schwer, denn ein langer Tag hatte alles Adrenalin aufgebraucht. Er gestattete sich den kleinen Luxus, für einen Moment die Augen zu schließen, damit sie nicht mehr so brannten. Die Erinnerung an seine verstorbene Frau Kerry war mit einem Mal in seinem Kopf und er stieß einen Seufzer stiller Trauer aus. Lucas behielt ihr Abbild solange es ging vor seinem geistigen Auge, bis es sich auflöste wie Morgennebel. Ihre lächelnden Augen verschwanden zuletzt.
Ging er deswegen dieses Risiko ein und versuchte, die fremde Frau zu retten? Waren es Schuldgefühle, weil er seine Ehefrau nicht hatte retten können, die Liebe seines Lebens? Weil er seinen Job wichtiger genommen hatte als seine Ehe?
»Das ist nicht wahr«, flüsterte er, doch seine Worte klangen hohl.
Er war in den ersten Tagen des Kollapses im Außeneinsatz gewesen, bei dem Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten, obwohl sich die Situation ständig verschlimmerte. Als die Grippe sich ausbreitete, waren viele Polizisten nicht mehr zur Arbeit erschienen. Die Nationalgarde hatte eigentlich ausrücken sollen, doch Lucas hatte ernste Zweifel gehegt, dass sich noch viele zum Dienst melden würden. Kerry hatte ihm versprochen, im Haus zu bleiben, die Türen abzuschließen und die Rollos unten zu lassen, aber irgendetwas – er hatte nie erfahren, was es war – hatte sie dazu veranlasst, die Sicherheit des Hauses zu verlassen.
Als man ihre Leiche fand, hatte Lucas all seine Willenskraft benötigt, um sich nicht den Lauf seiner Kimber in den Mund zu stecken und ihr in den Tod zu folgen. Er hatte nie herausgefunden, wer sie auf so unaussprechliche Weise missbraucht hatte, bevor er ihr Leben auslöschte. In der allgemeinen Abwärtsspirale der folgenden Tage war er gezwungen gewesen aufzugeben und sich auf sein eigenes Überleben zu konzentrieren.
»Du hättest nichts tun können«, wisperte er und rieb sich mit der Handfläche über sein Gesicht. »Niemand hätte das.«
Das war die Wahrheit, fühlte sich aber wie eine Lüge an. Er hätte zu Hause sein sollen, um sie vor allem Übel zu schützen, statt nur seinen Job zu machen. Er hätte wenigstens … irgendetwas tun können.
Allerdings hätte Lucas dafür ein anderer Mensch sein müssen – einer, der die ihm übertragenen Aufgaben beim ersten Anzeichen von Problemen hinwarf, einer, der die Menschen nicht schützte, die er zu schützen geschworen hatte – nur für den Fall, dass seine leichtsinnige Frau dachte, er würde es mit der ständig wachsenden Gefahr da draußen übertreiben.
Das wäre für ihn nie eine Option gewesen.
Aber sie hatte den Preis dafür bezahlt.
Sein Verstand ging auf Wanderschaft und spielte noch einmal wie in Zeitlupe den Sturz ins Chaos durch, als die Zivilisation zusammenbrach. Die Realität traf die Bevölkerung vollkommen unvorbereitet: Eine Versorgungskette für nur maximal drei Tage und abhängig von staatlicher Fürsorge, was Strom, Wasser und ihren eigenen Schutz anging. Ihr Vertrauen in den Staat erwies sich als unbegründet, als die Leichen sich zu stapeln begannen und eine Hungersnot die Nation erschütterte, gefolgt von totaler Anarchie. Er erinnerte sich noch an seine letzte Fernsehsendung, in der ein sichtlich nervöser Sprecher mit Schweißperlen auf der Stirn seine Zuschauer beschwor, dass alles gut werden würde und sie nicht in Panik verfallen sollten. Sie sollten in ihren Häusern bleiben, da man das Kriegsrecht verhängt hatte. Und er erinnerte sich an das Versprechen, dass es niemals zu dem apokalyptischen Szenario kommen würde, das sich bereits wie ein Lauffeuer über die sozialen Medien verbreitete. Nur eine weitere schlechte Lüge.
Das Wort ›niemals‹ hatte sich in Lucas' Erinnerung eingebrannt, in seiner ganzen, totalen Verlogenheit. Nur Stunden später war das Internet zusammengebrochen und es spielte letztendlich keine Rolle, ob es Vandalen oder die Regierung selbst gewesen war. Als er am folgenden Tag in seinem leeren Haus erwachte, war seine Ehefrau noch keine