Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 104

Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri

Скачать книгу

seines Ahnherrn geerbt. Nicht umsonst fürchtet sich seine Mutter davor mehr, als vor jedem anderen Unheil’.

      »Siehe oben«, sagte Kurt trocken, einen Blick nach dem oberen Teile des Tisches werfend, wo Bruno neben der Mutter sass. Ein drohender Blick aus Brunos Augen war die Antwort.

      »Erzähl doch schnell weiter, Mutter«, drängte Mea, die keineswegs gesinnt war, die Geschichte durch eine Fehde der Brüder unterbrochen zu sehen.

      »Es war mir so schrecklich«, fuhr die Mutter wieder fort, »dass dieser gute, grossmütige Bruno, der für mich nie andere als freundliche Worte hatte und mich bei jeder Gelegenheit mit Guttaten überhäufte, etwas in seinem Wesen haben sollte, vor dem seine Mutter sich fürchten musste. Oft ging ich ganz still in einen Winkel und weinte leise darüber, dass so etwas sein konnte. Dass es wirklich so war, musste ich auch bald selbst erkennen; denn wenn die drei Jungen einmal uneinig wurden, oder sonst jemand tat, was Bruno missfiel, so konnte er ganz ausser sich geraten und tun, was ihm gewiss nachher selbst leid war. Denn das muss ich wiederholen, er war eine so edle und grossmütige Natur, er wollte gewiss keinem Menschen unrecht tun, und etwas Gemeines hätte er nie getan. Aber zu Gewalttaten konnte sein furchtbarer Zorn ihn hinreissen.

      Sein Bruder Salo wurde nie so zornig, aber er gab dem wenig älteren Bruder auch niemals nach. Er hatte seinen Eigenwillen und hartnäckiges Festhalten an seinem Recht so gut wie der Bruder. Dazu hatte er bei allen Uneinigkeiten meinen Bruder Philipp auf seiner Seite; denn die beiden waren grosse Freunde. Bruno war viel zurückhaltender und verschlossener als sein Bruder. Auch hatte dieser eine viel fröhlicherer Natur; er sang und lachte durch die Hallen, dass es oft von allen Gewölben widerhallte. Auch die Frau Baron konnte so herzlich lachen. Darum meinte Bruno, die Mutter liebe den Jüngeren mehr als ihn, und er liebte seine Mutter sehr und konnte den Gedanken nicht ertragen. Aber das war nicht so, die Frau Baron liebte ihren Ältesten besonders, das konnten alle sehen, die ihr nahe standen.

      Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder Philipp fünfzehn und die Söhne auf dem Schloss also etwas älter und etwas jünger als er, da trat in unseren Kreis eine so liebliche und ungewohnte Erscheinung, dass wir gleich alle von ihr entzückt waren, ich gewiss am meisten. Aber auch unsere Freunde auf dem Schlosse, sogar mein Bruder Phipp, der gar nicht leicht von Begeisterung erfasst wurde, alle drei waren begeistert von unserer neuen Spielgenossin. Sie war ein Mädchen von elf Jahren, nur ein Jahr älter als ich; aber wie überragte sie mich in ihrem Wissen und Können, in ihrem Benehmen, in ihrem ganzen Wesen, ich war völlig hingerissen von ihrer ganzen Erscheinung.

      Leonore hiess sie. Sie war eine Verwandte der Frau Baron und kam vom hohen Norden herunter aus Holstein. Dort war auch meine Frau Patin geboren und hatte alle ihre Verwandten dort. Leonore war die Tochter einer solchen Verwandten. Sie hatte früh ihren Vater verloren, und da vor kurzer Zeit nun auch ihre Mutter gestorben war, hatte die Frau Baron den Entschluss gefasst, das Mädchen zu sich zu nehmen, da es sonst ganz allein gestanden hätte und auch, wie sie sagte, weil eine sanfte Schwester zwischen den zwei eigenwilligen Brüdern einen wohltuenden Einfluss auf beide ausüben müsste. Für mich fing eine Zeit an, so schön, wie ich sie mir nie hätte ausdenken können. Die mancherlei Unterrichtsstunden, die Leonore schon genommen hatte, sollten fortgesetzt und noch neue begonnen werden. Die Frau Baron hatte wohl schon vorher dafür gesorgt; denn bald nach Leonores Ankunft erschien ein feines Fräulein auf dem Schlosse, auch eine Deutsche, eine vorzügliche Lehrerin, was mir aber erst lange nachher ins Bewusstsein getreten ist.

      Meine Frau Patin hatte angeordnet, dass ich alle Unterrichtsstunden mit Leonore teilen, daher die ganzen Tage auf dem Schlosse zubringen und nur je am Abend heimkehren sollte. So brachten wir unsere Tage unzertrennlich zusammen hin und oft noch die langen Abende bis in die Nacht hinein; denn bei schlechtem Wetter liess meine gütige Frau Patin mich am Abend nicht nach Hause zurückkehren. Leonore hatte einen unumschränkten Einfluss auch mich, und das war zu meinem Besten. Überall konnte ich zu ihr aufschauen, ihrem edlen Wesen war alles Niedrige und Gemeine völlig fremd. Der nahe Umgang mit ihr war nicht nur der schönste Genuss meiner Kinder- und Jugendjahre; er hat mir einen Gewinn für mein ganzes Leben gebracht.«

      »Ja, du hast es gut gehabt, Mutter«, brach Mea hier leidenschaftlich los.

      »Und Onkel Phipp auch mit zwei solchen Freunden«, setzte Bruno hinzu.

      »Ja, ich weiss wohl«, sagte die Mutter. »Ach Kinder, wie oft habe ich sehnlich gewünscht, dass euch solche Freunde zuteil werden möchten.«

      »Weiter, Mutter, weiter«, bat Kurt ungeduldig, »wo sind sie denn alle hingekommen? Man weiss ja gar nichts mehr von ihnen.«

      »In allen Freistunden, die unsere Brüder hatten, wie wir sie nannten«, nahm die Mutter die Erzählung wieder auf, »waren sie unsere liebsten Spielgenossen. Wir schätzten ihre anregende Gesellschaft sehr und freuten uns immer herzlich, wenn durch irgendein Ereignis eine ihrer zahlreichen Unterrichtsstunden ausfiel und sie uns mit Freudenlärm herbeiholten; denn sie wollten uns auch gern bei ihren Spielen haben, das konnten wir wohl bemerken. Die Frau Baron hatte auch richtig vorausgesehen: seit Leonore unter uns war, kamen die Fehden zwischen den Brüdern gar nicht mehr so häufig vor, und wer den Bruno recht kannte, konnte wohl bemerken, wie er in ihrer Gegenwart seine Zornesausbrüche unterdrückte. Er hatte wohl gesehen, wie Leonore vor Schrecken totenblass geworden war, als sie einmal einem solchen Ausbruch beigewohnt hatte.

      Gegen vier Jahre waren uns so in wolkenlosem, sonnigem Glück dahingegangen; da trat eine grosse Veränderung für uns alle ein. Die jungen Barone hatten das Schloss verlassen, um in Deutschland höhere Lehranstalten zu besuchen. Mein Bruder Phipp wurde auf eine landwirtschaftliche Schule gebracht. Von nun an sahen wir die Brüder nur noch einmal im Jahre, im Sommer, wenn sie für eine für uns kurze Ferienzeit nach Hause kamen. Das waren dann lauter Festtage, die vom ersten Morgenlicht bis in alle Nacht hinein ausgenossen wurden, alle mit Musik beginnend und mit Musik endend, oft in Musik vollständig aufgehend.

      Die beiden Wallerstätten waren durch und durch musikalisch und hatten herrlich Stimmen. Leonores Gesang bewegte aller Herzen. Die Frau Baron sagte, ob Leonore heitere oder ernste Lieder singe, ihre Stimme bringe ihr immer die Tränen in die Augen. So ging es mir auch; aber man hätte sie immerfort mögen singen hören. Ich hatte eben mein siebzehntes, Leonore ihr achtzehntes Jahr zurückgelegt, als wir einem Sommer entgegengingen, der grosse Entscheidungen bringen sollte. Mein Bruder Phipp wurde nicht erwartet, er stand schon seit dem vergangenen Sommer in einer Verwalterstelle auf einem Gute im Norden, das die Frau Baron kannte und für ihn ausgefunden hatte. Die jungen von Wallerstätten hatten nun auch ihre Studien beendet, und ihre Mutter sah voraus, dass sie sich bei ihrem Besuch über ihre Pläne für die Zukunft aussprechen würden. Sie meinte, vielleicht wollten sie nun noch alle beide reisen, wünschte aber, einer von ihnen hätte den häuslichen Sinn, heimkehren zu wollen, so dass sie alle Mühe und Sorgen um das Schlossgut auf seine Schultern legen könnte. Die Brüder mussten sich bald nach ihrer Ankunft in einer Weise gegen die Mutter ausgesprochen haben, die sie beunruhigte. Sie ging schweigend und geängstigt umher und wich allen unseren Fragen aus. Bruno lief mit flammenden Blicken stundenlang auf der Schlossterrasse hin und her und sprach kein Wort. Nur mit Salo konnten wir noch verkehren. Er setzte sich zwar zu uns; aber wenn wir ihn fragten, was denn vorgehe, blieb auch er stumm. Es war gar nicht wie sonst, wenn die Brüder heimgekehrt waren; aber der peinliche Zustand währte nicht lang. Am fünften oder sechsten Tag nach ihrer Ankunft erschienen die beiden nicht zum Frühstück. Die Frau Baron lief gleich in höchster Unruhe nachzufragen, ob sie das Schloss verlassen hätten, ob jemand gesehen, wohin sie sich gewendet hätten. Niemand wusste etwas von ihnen; nur Apollonie hatte sie früh am Morgen gesehen, wie sie miteinander die Treppen hinaufstiegen. Sie wurde nach den Turmzimmern hinaufgeschickt, fand diese aber leer. Aus eigenem Antrieb öffnete dann Apollonie den alten Fechtsaal. Hier sass, an die Steinwand gelehnt, Salo halb ohnmächtig auf dem Boden. Er sagte, es sei nichts, er habe nur einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Sie musste ihm aber aufstehen helfen, und auf ihren Arm gestützt kam er herunter. Er blutete aus einer Kopfwunde. Die Frau Baron sprach kein

Скачать книгу