Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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In diesem Augenblick trat Onkel Phipp ein.
»Was geht denn hier vor?« rief er erstaunt in den Aufruhr hinein.
Nun fingen alle miteinander an zu erklären.
Lippo liess los, um dem Onkel nahe zu kommen und Hilfe von ihm zu erreichen. Kurt hatte die lauteste Stimme, er drang durch.
Der Onkel vernahm nun, um was es sich handle und was Lippo mit Hartnäckigkeit durchführen wollte.
»Lippo hat recht«, entschied Onkel Phipp, »was man angefangen hat, das soll man zu Ende führen, solchen guten Grundsatz muss man mit Hartnäckigkeit aufrechterhalten. Das hat Lippo von seinem Paten geerbt, der wird ihm auch beistehen. Komm, Lippo, gleich setzen wir uns hin und singen das Lied miteinander fertig bis zum letzten Wort.«
»Aber Onkel Phipp, das Lied hat zwölf Strophen, wir müssen ja in die Schule; es ist die höchste Zeit, und Lippo muss ja mit«, rief Kurt in grosser Aufregung; »wenn der Lehrer fragt, warum Lippo nicht komme, kann ich doch nicht sagen, er muss daheim sein Morgenlied fertig singen.«
»Das ist richtig, nun hat Kurt recht«, sagte der Onkel; »aber siehst du, Lippo, ich weiss einen Ausweg. Heute abend wird ja wieder gesungen, da muss mir die Mutter versprechen, das Lied mit euch zu Ende zu singen, damit ist es doch noch fertig geworden«
»Das kann man nicht, das kann man nicht«, jammerte Lippo, »es ist ein Morgenlied, am Abend kann man kein Morgenlied singen; jetzt gleich muss man es fertig singen. Wart noch, Kurt!« schrie er auf, als er sah, dass Kurt seinen Schultornister auf den Rücken nahm.
»Was muss man denn machen? Wo ist die Mutter? Warum läuft sie gerade in einem solchen Augenblick davon?« rief Onkel Phipp in hilfloser Aufregung. »Ruf die Mutter herbei, das kann ja nicht so gehen!«
Lippo hatte sich, nachdem er seinen Angstschrei ausgestossen hatte, dass Kurt ihm nicht davonlaufe, an das Klavier gedrückt und leise, aber ganz kläglich zu weinen begonnen. Kurt riss die Tür auf und rief nach der Mutter mit einer Stimme, die weit über das Haus hinaus ihr Ohr erreicht hätte. Die Anstrengung wäre nicht nötig gewesen, die Mutter stand dicht neben ihm an der Tür. Bruno hatte sie hinausgezogen, weil er ihr gern noch eine Mitteilung machen wollte, bevor auch er für seine Unterrichtsstunden das Haus verliess, und zu seinen Mitteilungen wollte er die Mutter allein haben.
»Komm doch herein, Mutter«, rief Kurt, doch jetzt in gemildertem Ton, »komm und hilf, dass dieser zweibeinige Gesetzesparagraph einmal Vernunft annimmt! In fünf Minuten geht die Schule an.«
Die Mutter trat wieder in die Stube.
»So komm doch, Maxa, wo bist du denn hingekommen?« rief ihr der Bruder zu, »es ist ja die allerhöchste Zeit. So hilf doch dem Buben zurecht. Da steht er ganz unglücklich und klammert sich an das Klavier an und soll doch gleich gehen, Kurt hat ja recht.«
Die Mutter nahm den kläglich Schluchzenden bei der Hand und zog ihn, sich auf den kleinen Klaviersessel setzend, vor sich hin.
»Komm, Lippo, das ist nun gar nichts so Schlimmes«, sagte sie beruhigend; »ich will dir etwas erklären: Siehst du, es ist sehr gut, dass du fertig machen willst, was du angefangen hast; aber es gibt Dinge, die man nicht gleich hintereinander fertig machen kann, wenn sie einmal angefangen sind. Dann teilt man diese Dinge in mehrere Teile und nimmt sich vor: Heute mache ich den ersten Teil fertig und morgen den zweiten, und so bis zum Schluss. Dann hat man jeden Tag fertig gemacht, was dahin gehörte, und das Ganze auch fertig gebracht. Nun sagen wir: Unser Lied hat zwölf Strophen, jeden Morgen sollen nun zwei davon gesungen werden, und am sechsten Tag haben wir das ganze Lied fertig gebracht und nicht unbeendigt liegen lassen. Verstehst du das, Lippo, und bist du nun beruhigt?«
»Ja«, sagte Lippo und schaute wirklich ganz befriedigt zur Mutter auf.
Jetzt musste ein ungewöhnlich kurzer Abschied von Onkel Phipp genommen werden.
»Komm nur bald wieder«, scholl’s noch dreimal von der Treppe zurück, dann ging es endlich der Schule zu.
Die Mutter schaute den dreien noch aus dem Fenster nach; sie besorgte, die beiden Älteren könnten den Kleinen gar zu weit zurücklassen, da er das späte Fortkommen verschuldet hatte. Wirklich liefen Kurt und Mea ziemlich voraus. Was hatte aber auch Lippo für einen sonderbar grossen Schulsack auf dem Rücken? musste sich die Mutter fragen.
»Kannst du erkennen, was Lippo aufgepack hat, Phipp?« fragte sie den Bruder.
Der Deckel des Schultornisters stand hoch emporgestossen von einem dicken Gegenstand, der gar nicht in den Tornister hineingebracht werden konnte und jedenfalls nicht hineingehörte.
»Was er nur mitschleppt! Siehst du was es ist?«
»Ich sehe nur ein graues Papier um einen runden Gegenstand gewickelt«, erwiderte der Bruder, »es ist jedenfalls nichts Böses darin. Das muss ich sagen, er ist ein durchaus guter und gehorsamer und auch ein recht vernünftiger Junge. Sobald man ihm das rechte Wort sagt, kommt alles ins Geleise. Warum hast du aber auch so lange gewartet, ehe du’s ihm sagtest, Maxa?« Onkel Phipps Ton wurde ganz vorwurfsvoll. »Erst läufst du fort und lässest ihn jammernd zappeln, wo er sich nicht zu helfen weiss. Er wollte ja doch etwas ganz Rechtes, nur zu unrechten Zeit; man musste ihm nur auf den rechten Weg verhelfen. Warum hast du das doch nicht gleich getan, anstatt fortzulaufen?«
»Ich konnte doch ruhig Brunos Anliegen schnell anhören, es war auch notwendig«, sagte die Schwester, »den Lippo wusste ich ja unterdessen in guten Händen. Ich dachte, du würdest ihm schon ein Wort sagen, das ihn beruhigen könnte, er hört ja so sehr auf dich.«
»Ja, ja, das ist ja alles recht«, gab Onkel Phipp zu; »aber wenn da so ein kleiner Kerl eine rechte Sache hat und man soll sie ihm widerlegen, und er nimmt dann alles noch so genau, dass er behauptet, man könne kein Morgenlied am Abend singen, und jammert in seiner Hilflosigkeit, dass man’s nicht anhören kann, da kommt einem auch nicht sogleich das rechte Wort in den Sinn, das liegt nicht immer so auf der Hand.«
Die Schwester lächelte.
»Nicht wahr, Phipp, so ganz einfach ist das Kindererziehen doch nicht?«
»Da ist etwas Wahres daran. Aber auf der anderen Seite sieht die Sache doch auch wieder nicht so schlimm aus«, sagte der Bruder mit einem Blick auf Mäzli, das jetzt still und friedlich am Tische sass und recht säuberlich und ordnungsgemäss seine Milch und Brocken behandelte. Während der grossen Aufregung von Lippo hatte es die Tätigkeit unterbrechen müssen; denn da musste es mit aller Aufmerksamkeit den Vorgang verfolgen; das Begonnene wurde nun in aller Ruhe zu Ende gebracht.
Jetzt gewahrte Onkel Phipp, dass die Zeit, die er zu seinem Fortgehen bestimmt hatte, längst überschritten war. Schnell nahm er Abschied von seiner Schwester und wollte davoneilen; aber einen Augenblick hielt sie ihn noch fest.
»Nicht wahr, Phipp, das tust du mir zu Gefallen?« bat sie dringend, »wenn du kannst, suchst du zu vernehmen, wohin das Mädchen gehört, mit dem du gereist bist? Denk doch, wenn deine Vermutung richtig wäre, wenn das Kind der Leonore hier in unserer Nähe wäre, da müsste ich es ja einmal sehen, nur einmal, das könnte mir doch niemand wehren!«
»Wollen sehen, wollen sehen«, gab der Bruder eilig zurück, dann war er verschwunden.
Der bewegte Tagesanfang hatte soviel Zeit