Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 101
Kurt war froh, dass eben jetzt Mea eintrat; denn gerade heute hatte er sich in einer Weise mit dieser Sache beschäftigt, die wohl der Mutter nicht so ganz gefallen würde, doch beruhigte er sich damit, dass er doch ganz in ihrem Sinne handle, wenn er den Leuten beweise, dass der ganze Spuk eine leere Erfindung sei und dadurch dann für ihn und alle anderen alles für abgetan gelten würde.
»Warum hast du denn so verweinte Augen?« rief er der Schwester entgegen.
Jetzt brach Mea los, halb zornig, halb klagend, immer wieder mit den Tränen kämpfend: »Ja, du solltest nur wissen, Mutter, wie schwer es ist, mit der Elvira Freundschaft zu halten. Sie nimmt alles gleich übel, und dann wird sie so verstimmt und spricht nicht mehr und bleibt bös auf ganze Tage lang. Und wenn ich ihr noch etwas Gutes mitteilen will und ihr entgegenlaufe und ein bisschen an sie herankomme, so ist sie schon beleidigt und meint, ich habe ihr die Blumen auf dem Hut verdorben, weil sie ein wenig geschüttelt worden waren, und kehrt mir den Rücken und will nichts mehr von mir wissen.«
»Ja, das hab ich wohl gesehen letzthin«, warf Kurt ein, »und gestern hab ich ein Lied auf sie angefangen, das soll ihr gesungen werden. Nun will ich dir’s gleich vorlesen:
‘Lied auf das bekannte Fräulein.
Ein Fräulein schönen Angesichts,
Die kehrt dir gern den Rücken,
Von lautem Lärmen weiss sie nichts,
Sie weiss von stillen Tücken’.«
»Nein, das darfst du nicht singen, Kurt, das Lied darfst du nicht weitermachen«, rief Mea in neuer Aufregung.
»Mea hat recht, dass sie ihre Freundin nicht in dieser Weise besingen lassen will«, sagte die Mutter, »und wenn sie sich dagegen wehrt, kannst du es auch wohl lassen, Kurt.«
»Ich bin aber der Bruder, Mutter, ich will nicht zusehen, wie diese Freundin meine Schwester unterjocht und tyrannisiert. Das ist überhaupt gar keine rechte Freundin«, eiferte Kurt, »und wenn mein Lied sie so erzürnte, dass die ganze Freundschaft darüber verkrachen würde, so wäre dieses Erlebnis nicht zu beweinen.« Aber Mea wehrte sich leidenschaftlich für ihre Freundin und gab nicht nach, bis Kurt versprach, er werde das Lied nicht fortsetzen.
Nun wünschte die Mutter zu wissen, was denn eigentlich Mea zugestossen sei, dass sie so verweinte Augen habe. Sie erzählte, sie sei dem Loneli nachgegangen, weil es unter Schluchzen und Weinen die Schule verlassen habe; sie hätte es gern ein wenig trösten wollen. Loneli habe ihr dann mitgeteilt, wie es mit dem Schwatzen gegangen sei: Elvira, Lonelis Nachbarin auf der Schulbank, hatte gefragt, ob es auch am Sonntag auf die Kirchweih nach Sils im Tal gehen dürfe, und es hatte geantwortet: ‘Nein’. Dann wollte Elvira wissen, warum nicht, worauf Loneli geantwortet hatte, es wolle ihr nach der Schule alles erklären, hier dürften sie ja nicht so miteinander schwatzen. In dem Augenblick hatte der Lehrer gerufen, und Loneli hatte sich angezeigt.
»Nicht wahr, Mutter, da hätte doch Elvira sagen müssen, sie habe Loneli etwas gefragt, dann hätte gewiss der Lehrer nicht Loneli allein auf die Schandbank geschickt, vielleicht hätte er den zweien dann auch eine andere Strafe gegeben«, sagte Mea in Aufregung.
»So, nun hat sie auch noch Loneli auf die Schandbank gestossen!« fiel Kurt ein, »Loneli ist meine gute Freundin, nun muss sie auch noch mehr Verse haben.«
»Gewiss, das hätte Elvira tun sollen«, bestätigte die Mutter. »Ja, nun hör nur, wie es weiter ging«, fuhr Mea immer eifriger fort. »Ich lief dann von Loneli weg, weil ich noch Elvira einholen wollte. Ich habe aber das arme Loneli immer noch schluchzen hören, es fürchtete sich so sehr heimzugehen, es musste ja der Grossmutter sagen, was geschehen war, und es wusste, sie werde sehr bös sein, dass es sich eine solche Schande zugezogen habe. Elvira habe ich gleich nachher angetroffen und habe ihr gesagt, es sei doch nicht recht, dass sie sich nicht auch gemeldet habe, vielleicht wäre es dem Loneli dann auch nicht so schlimm gegangen. Da wurde sie so bös auf mich und sagte, ich sei eine schöne Freundin; ich hätte mich noch gefreut, wenn sie auch hätte auf der Schandbank sitzen müssen. Das hätte sie mir doch nicht sagen sollen, nicht wahr Mutter? Sie wusste wohl, dass das unmöglich war. Das sagte ich ihr auch und dann noch, dass ja jetzt die Sache für sie vorüber sei; aber für Loneli nicht, und dass sie darum dem Lehrer sagen sollte, wie es war. Er würde dann wohl etwas sagen in der Schule, dass die Kinder alle wüssten: Loneli habe nur eine Antwort versprochen, um sie nicht in der Schule geben zu müssen, und sei darum nicht so schuldig gewesen. Da ist die Elvira noch viel böser geworden und hat gesagt, wenn ich nur immer predigen wolle, so solle ich eine andere Freundin suchen; sie wolle nichts mehr von mir wissen, und dann hat sie sich umgekehrt und ist fortgelaufen.«
»Desto besser!« rief Kurt aus, »nun brauchst du aber nicht wieder demütig der Elvira entgegenzugehen, als wärst du die Schuldige, wie du sonst tust, nur damit sie wieder gut ist.«
»Wenn Mea ihrer Freundin wieder freundlich entgegengehen will, Kurt, so hat sie recht«, sagte die Mutter. »Elvira weiss recht gut, wer die andere beleidigt und ihr die Freundschaft gekündigt hat, sie wird Meas Entgegenkommen um so freundlicher aufnehmen.«
Kurt wollte noch eine Einwendung vorbringen; aber sie wurde nicht mehr gehört; Lippo und Mäzli kamen hereingerannt und verkündeten mit lauter Stimme die wichtige Nachricht, Käthi werde gleich die Suppe auf den Tisch bringen, und nun sei dieser noch gar nicht gedeckt.
Die Mutter hatte heute mit den Vorbereitungen zum Mittagessen absichtlich ein wenig gezögert. Immer wieder hatte sie ihre Blicke während des Gesprächs mit Kurt und Mea auf das Pförtchen am Garten gerichtet, ob Bruno nicht endlich dort eintreten würde. Noch war er nirgends zu sehen. Nun ging sie schnell daran, mit Mea den Tisch zu ordnen; noch hilfreichere Hand leistete ihr Lippo dabei. Er wusste genau, wo jedes Ding im Schrank zu finden war und wo es auf dem Tisch seinen Platz hatte. Dahin trug er es und legte es in schönster Ordnung hin, wie es sein musste, und wenn Mea nach ihrer Weise schnell einen Löffel dahin und die Gabel dorthin warf, wohin sie ungefähr gehörten, und diese durch die schnelle Beförderung etwas schief auf die Stelle gelangten, ging er sorglich hin und brachte Löffel und Gabel in ganz gerade Stellung und legte sie genau dahin, wo sie liegen mussten.
Kurt lachte auf: »Lippo muss ein Gastwirt werden, seine gedeckten Tische werden alle aussehen, als seien sie mit dem Zirkel hergestellt.«
»Lasst mir Lippo in Ruh«, sagte die Mutter, »mir wäre sehr lieb, wenn jedes von euch seine kleinen Arbeiten so pünktlich ausführen würde, wie er es tut.«
Schon war das Mittagessen zu Ende gekommen. Die Mutter schaute immer ängstlicher auf den Weg hinaus. Bruno hatte sich noch nicht eingestellt.
»Jetzt kommt er«, rief Kurt plötzlich, »er hat seine grosse Peitsche mit; die braucht man sonst nicht in den Unterrichtsstunden, da hat’s was abgesetzt.« Voller Erwartung öffnete er dem Herankommenden die Tür. Die Mutter sah so erschrocken aus, dass auch Bruno es bemerken musste, trotz der Aufregung, die in ihm kochte und deutlich auf seinem Gesicht zu sehen war.
Gleich bei seinem Eintritt rief er: »Ich will dir nun gleich sagen, Mutter, was vorgegangen ist, damit du dir nicht etwas viel Ärgeres vorstellst: Ich habe sie nur durchgepeitscht, alle beide, wie sie es verdient haben.«
»Das ist doch wohl arg genug, Bruno. Wie schrecklich! Du