Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 97
»Ja, das wäre freilich am einfachsten«, sagte die Schwester, »es ist nur schade, dass du nicht ein Schärchen zu erziehen hast, Phipp, alle so lebendig und jedes vom anderen so verschieden wie die meinen, so dass ich immer das eine zu demselben Ding anzutreiben habe, wovon ich das andere zurückhalten muss. Die Sorgen kommen mir, ohne dass ich sie suche. Heute ist eine neue grosse Sorge mir aufs Herz gefallen, die auch du nicht nur so beseitigen kannst.«
Nun erzählte Frau Maxa ihrem Bruder, was die Frau Amtsrichter ihr heute mitgeteilt hatte, und wie sie nun voraussähe, dass der Unterricht für Bruno auf den Herbst zu Ende gehe, wie sie aber nicht daran denken dürfe, den Jungen mit den zwei Söhnen Knippel fortziehen und gar zusammen wohnen zu lassen. Nicht ein einziges Mal noch seien die drei zusammengekommen, ohne dass das Beisammensein mit irgendeiner Bosheit von der einen und einem schrecklichen Zornesausbruch von der anderen Seite geendet habe.
»Soll das nun nicht eine grosse Sorge für mich sein, die drei in der Ferne unter einem Dach zu wissen? Musst du das nicht selbst denken, Phipp?« schloss Frau Maxa.
»Ja, siehst du, Maxa, das ist nun eine alte Erfahrung«, antwortete der Bruder ernsthaft, »zu allen Zeiten hat es Buben gegeben, die sich durchgeprügelt, und nachher wieder Frieden gemacht haben.«
»Nein, Phipp, das ist kein Trost«, gab die Schwester zurück, »das ist auch gar nicht Brunos Art. Er schlägt sich nicht herum; aber was er in seinem Zorn und seiner Empörung über eine Ungerechtigkeit oder heimliche Bosheit anzustellen imstande wäre, das steht mit Schrecken vor mir.«
»Das hat ihm sein Namenspatron eingebunden, den niemand für alle seine Zornestaten zu entschuldigen und rein zu waschen wusste wie du, Maxa, in deiner unverwüstlichen Hochschätzung.«
Weiter konnte Onkel Phipp nicht sprechen. Die Kinder kamen alle hintereinander herangerannt. Jedes der Kleinen wollte dem Onkel und der Mutter die schönsten seiner Erdbeeren in den Mund stecken, während Mea ihren ungeheuren Vergissmeinnichtstrauss ihren Augen nicht nahe genug bringen konnte, damit er bewundert werden. Bruno und Kurt waren auch herangekommen, und jeder hatte eine eigene Mitteilung für die Mutter und den Onkel bereit. Die Sonne war hinter dem Berge niedergegangen. Das hatte sie erinnert, dass es Zeit sei, heimzukehren.
Mutter und Onkel erhoben sich von ihren Sitzen, und nun ging es rasch den Berg hinab, die Kleinen wieder an der Seite des Onkels, in hellem Jauchzen dahintrabend; denn Onkel Phipp machte solche Sprünge, dass sie dabei manchmal hoch in die Luft flogen, aber an seiner festen Hand immer wieder sicher auf den Boden kamen.
Beim Eintritt ins Haus kam Kurt ein herrlicher Gedanke: »Oh, Mutter«, rief er ganz erregt aus über die Aussicht, »heute abend kommt die Geschichte derer von Wallerstätten, das passt so gut, da man eben das Schloss so nahe betrachtet hat, dass man alle Giebel und Schiessscharten und Turmzinnen genau vor sich hat.«
Aber wieder musste die Mutter sagen: »Nein, heute geht es wirklich nicht, heut ist der Onkel da, und morgen früh muss er wieder fort, da habe ich noch vieles mit ihm zu besprechen, und ihr müsst alle bald zu Bett, sonst seid ihr morgen nach dem langen Spaziergang nicht herauszubringen.«
»Oh, wie schade! Oh, wie schade!« jammerte Kurt; denn er hoffte immer noch, bei der Geschichte komme doch etwas von dem Geist von Wildenstein zum Vorschein, obschon man ja nicht an ihn glauben konnte. Auf seinem Baum sitzend, hatte sich Kurt so recht in die Betrachtung vertieft, wo der Geist etwa hätte erscheinen können.
Wenn die Mutter am Abend zum Nachtgebet an die Betten trat, fand sie gewöhnlich das Mäzli von den Ereignissen des Tages noch so aufgeregt, dass sie immer grosse Mühe hatte, das Kind zu der notwendigen Ruhe zu bringen. Heute musste es von besonders lebendigen Eindrücken erfüllt sein, die nun, da alles ringsum still war, wieder vor ihm aufgestiegen sein mochten.
Mit funkelnden Augen sass Mäzli aufrecht in seinem Bett, und sobald die Mutter erschien, rief es ihr entgegen: »Warum darf die Knippelsuppe der Apollonie den Sonntagsfrieden stören?«
»Was hast du wieder aufgeschnappt, Mäzli?« sagte die Mutter erschrocken; denn schon sah sie den Augenblick kommen, da das Mäzli die Frau Amtsrichter mit der neuen Benennung bekannt machen würde. »Diesen Ausdruck musst du nie mehr brauchen, Mäzli, siehst du, es würde kein Mensch verstehen, was du damit meinst. Kurt konnte ihn auch nur für den einzigen Augenblick erfinden, da die Apollonie vom Verschlucken sprach; er hätte es auch da unterlassen können. Du musst nie mehr so sagen, verstehst du, Mäzli?«
»Ja, aber warum darf man der Apollonie ihren Sonntagsfrieden zerstören?« fragte Mäzli beharrlich weiter; denn die Apollonie war seine besondere Freundin, der es nichts geschehen lassen wollte.
»Das dürfte man eben nicht, Mäzli«, erwiderte die Mutter, »keiner sollte dem anderen seinen Sonntagsfrieden stören, das ist ein Unrecht.«
»Aber dann könnte ja der liebe Gott nur schnell herunterrufen: ‘Tu nicht so, tu nicht so’. Dann wüssten sie, dass sie nicht dürfen«, meinte Mäzli.
»Das tut er auch, Mäzli, das tut er jedesmal, wenn einer ein Unrecht tun will«, sagte die Mutter, »ganz deutlich hört ein solcher dann die Stimme, die ihm zuruft: ‘Tu’s nicht, tu’s nicht!’ Und er weiss, es ist der liebe Gott, der ihm so zuruft. Aber manchmal tut er’s doch, und schon junge Kinder, wie Mäzli eins ist, hören die Stimme, wenn sie etwas tun wollen, das sie nicht tun dürfen, und dann tun sie es doch.«
»Dann nimmt es mich nur wunder, dass der liebe Gott sie nicht gleich abstraft; das müsste er nur tun«, eiferte Mäzli.
»Das tut er auch gleich«, antwortete die Mutter. »Gleich, wenn das Böse getan ist, ist der, der’s getan hat, ohne Friede, es drückt ihn im Herzen, so dass er immer denken muss: ‘Hätt ich’s lieber nicht getan!’ Dann ist der liebe Gott so gut und barmherzig, dass er ihn nicht noch weiter straft. Er lässt ihm dann Zeit, dass er zu ihm kommen und ihm sagen kann, wie es ihm leid ist, das Böse getan zu haben, und den lieben Gott um Verzeihung bitten kann. Wenn er aber das nicht tut, dann kommt die Strafe, dass er noch mehr Unrecht tut und davon ganz unglücklich wird.«
»Nun will ich doch recht aufpassen, ob ich die Stimme auch einmal höre«, nahm sich Mäzli vor.
»Und dann der Stimme folgen, das ist die Hauptsache, Mäzli«, sagte die Mutter. »Aber nun wollen wir ganz ruhig sein, und dann betest du, und nachher schläfst du schön ein.«
Nun sagte Mäzli recht andächtig sein Gebetlein, und da es nichts Beunruhigendes mehr auf dem Herzen hatte, legte es sich hin und war schon halb eingeschlafen, als die Mutter die Tür hinter sich schloss.
Nun wurde sie noch an vier Betten erwartet. Jedes der Kinder hatte um diese Zeit seine besonderen Anliegen der Mutter noch vorzutragen. Aber heute blieb wenig Zeit dazu mehr übrig; sie musste die Kinder auf morgen vertrösten; für den guten Onkel Phipp brachte man gern ein kleines Opfer. Er hatte der Schwester noch empfohlen, bald wieder zu erscheinen. Als sie nun wieder in die Stube eintrat, lief er mit ungeduldigen Schritten hin und her; er konnte es offenbar kaum mehr erwarten, endlich der Schwester die Sache mitzuteilen, auf die er schon mehrmals angespielt hatte.
»Komm doch endlich«, rief er der Schwester entgegen, »bist du denn noch gar nicht neugierig, dein Geschenk kennen zu lernen, das ich dir gebracht habe?«
»Ach, Phipp, das wird ja ein Spass sein«, erwiderte Frau Maxa; »aber etwas anderes möchte ich von dir hören, was du mit dem Gedanken meintest, den du über die Kinder von Wallerstätten hast?«
»Das