Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 98
»Nein, Phipp, heut ist’s Sonntag, heut gibt’s keinen Flickkorb, und die Kinder schlafen alle friedlich. Erzähl mir nur, was hast du denn für Gedanken?«
Jetzt setzte sich Onkel Phipp geruhlich zu seiner Schwester hin: »So sicher, als ich hier neben dir sitze, Maxa«, begann er, »so sicher sass ich vor drei Tagen neben der jungen Leonore von Wallerstätten, das war ganz untrüglich das Kind der Leonore. In diesem Augenblick weilt es nur eine Stunde von dir entfernt und wird da wohl mehrere Wochen lang bleiben. Diese Nachricht wollte ich dir zum Geschenk bringen.«
Frau Maxa konnte vor Erstaunen und Überraschung erst kein Wort sprechen.
»Bist du dessen wirklich sicher, Phipp?« fragte sie jetzt, nach neuer Versicherung verlangend; »aber wie konntest du zu der Gewissheit kommen, dass, die du gesehen, das Kind der Leonore ist?«
»Erstens, weil kein Mensch, der Leonore gekannt hat, je vergisst, wie sie aussah, und dieses Kind jeden Zug von ihr hat und gerade mit demselben Blick aus den Augen schaut, wie Leonore. Zweitens, weil das Kind Leonore genannt wurde; drittens, weil ihm dieselben braunen Locken über die Schultern fielen wie der Leonore und es mit derselben Stimme sprach, wie Leonore, so weich und so anmutig, wie sonst kein Mensch, und viertens und fünftens und sechstens, weil dieses Kind nur der Leonore gehören kann und niemand anderem, denn sie war nicht doppelt da.« Onkel Phipp war vor eifrigen Beweisen ganz warm geworden.
»So erzähl doch, wie es war, wo du das Kind sahst, erzähl mir doch alles genau«, drängte nun die Schwester.
Nun erzählte der Bruder: Als er vor drei Tagen, von seiner Reise zurückkehrend, unten in der Stadt angekommen war, gab er gleich Befehl im Hotel, dass ein Wagen bereit gemacht werde, er wollte den Abend noch daheim, in Sils im Tal ankommen. Der Wirt habe ihm dann mitgeteilt, dass soeben auch ein Wagen von zwei Damen bestellt worden sei, die nach Sils am Stein hinaufzufahren gedächten. Dass diese alle nur möglichen Erkundigungen über die Fahrt eingezogen hätten, da sie des Weges ganz unkundig seien, und dass sie es gewiss mit Freuden begrüssen würden, wenn er sich zu der Fahrt ihnen anschliessen wollte, da sie ja doch denselben Weg zu machen hätten. Er habe dann dem Wirt überlassen, die Sache anzuordnen, da er nichts dagegen hatte und, wie es schien, die Damen auch nicht; denn bald nachher seien sie erschienen, sich ihm vorzustellen. Dann sei der Wagen vorgefahren, und beim Einsteigen habe sich erwiesen, dass sie noch ein Töchterchen mithatten, dem dann an seiner Seite auf dem Rücksitz der Platz zur Reise angewiesen wurde.
»Und dieses Töchterchen war das Kind der Leonore, dessen bin ich so sicher, als meiner Verwandtschaft mit dir«, schloss der Bruder.
Frau Maxa war sehr erregt.
Solle wirklich eines der Kinder, nach denen sie seit Jahren vergeblich gefragt und gesucht und ein solches Verlangen im Herzen getragen hatte, plötzlich in ihrer Nähe sein! Würde sie es sehen können? Wer waren die Damen, zu denen es gehörte?
Eine Menge von Fragen stieg in ihr auf. Der Bruder sollte sie beantworten; er sollte noch vieles wissen und zu erzählen haben. Aber alles, was er noch weiter wusste, war, dass die Damen in der Nähe von Hannover lebten, dass das Töchterchen zu ihnen gehörte und Leonore genannt wurde. In einem Blatte hatten sie gelesen, dass in Sils am Stein eine kleine Villa für die Sommermonate zu vermieten wäre. Diese hatten sie für einige Zeit übernommen und waren nun auf dem Wege dahin. In Sils im Tal hatte er den Damen seinen Wohnsitz gezeigt, sich auch zu allen Dienstleistungen anerboten, die ihnen vielleicht im fremden Lande angenehm sein könnten, und sich dann von ihnen verabschiedet.
Der Name Leonore hatte in Frau Maxa soviele Erinnerungen an die schönen Tage ihrer Kindheit und Jugendzeit wachgerufen, dass sie nicht müde wurde, dem Bruder alle die herrlichen Tage wieder vor die Augen zu bringen, die so dort auf dem Schlosse mit der unvergesslichen Leonore und ihren Vettern zugebracht hatten, und heute war der Bruder auch mehr als je geneigt, auf alle die Erinnerungen einzugehen. Ja, wenn die Schwester abzubrechen schien, fing er von neuem an und wusste der merkwürdigen Ereignisse und der mit den Freunden vollführten Taten immer noch mehr.
»Weisst du, Maxa«, schloss er endlich aufstehend, »wir hatten bessere Spielgenossen, als deine Kinder jetzt haben, und wenn dein Bruno seine zwei Kameraden etwa ein bisschen hauen möchte, so gefällt’s mir noch besser, als wenn er ihre Art annehmen würde«
So lange hatten die Geschwister seit langer Zeit nicht mehr in die Nacht hinein geplaudert, und doch kam nachher noch lange kein Schlaf in Frau Maxas Augen. Immer wieder stand jene Leonore mit den langen braunen Locken und dem gewinnenden Blick der glänzenden Augen vor ihr, und immer lebendiger wurde das Verlangen in ihr, das Mädchen zu sehen, das ihr so ähnlich war, dass es als ihr Kind erkannt werden konnte.
Schloss Wildenstein
Am frühen Morgen, als Lippo und Mäzli eben zum Tageslauf ausgerüstet aus der Mutter Händen entlassen worden waren, stiegen die beiden wie gewöhnlich in lebhafter Unterhaltung zur Wohnstube hinunter. Mäzli hatte dann immer schon erfahren, was ausgeführt werden sollte, wenn Lippo aus der Schule heimkommen würde, und machte ihm Mitteilung davon.
Die Mutter hatte rasch noch eine andere Arbeit abzutun, dann folgte sie den Kindern nach. Sie standen alle fünf um das Klavier geschart. Der Eintritt der Mutter brachte Kurt plötzlich zu einem lauten Schreckensruf: »Oh, Mutter, wir haben die Abgebrannten vergessen, und heute morgen sollten wir alles mitbringen!«
»Ja, und der Lehrer hat zweimal gesagt, wir dürfen es nicht vergessen«, jammerte Lippo. »Aber weisst du, ich habe es nicht vergessen.«
»Ihr könnt ruhig sein, es ist alles in Ordnung«, sagte die Mutter. »Eben habe ich Käthi mit einem Korb voller Sachen zum Lehrer geschickt; er war zu schwer zu tragen für euch.«
»Oh, wie angenehm! Es ist so bequem, dass man eine Mutter hat«, sagte Kurt erleichtert.
Jetzt setzte sich die Mutter ans Klavier.
»Wir wollen unser Morgenlied singen«, sagte sie, »auf den Onkel können wir nicht warten. Es möchte zu spät werden, bis er von seinem Morgenspaziergang zurückkehrt.« Nun schlug sie ihr Buch auf und stimmte an: »Die goldene Sonne - Voll Freud und Wonne.«
Und die Kinder alle fielen ein und sangen frisch und sicher mit; denn sie kannten das Lied wohl. Auch Mäzli sang laut und eifrig mit, und wo die Worte des Liedes ihm entfallen waren, da setzte es ohne Zögern die eigenen ein und fuhr lobsingend fort. Zwei Strophen waren gesungen, da sagte Kurt: »Nun müssen wir aufhören, es wird sonst zu spät. Wir müssen frühstücken, dann ist’s Zeit für die Schule.«
Die Mutter fand, er habe recht, stand auf und ging zum Tisch, die Tassen zu füllen.
Aber nun erhob Lippo ein ganz klägliches Geschrei und rief, die Mutter zurückziehend: »Tu’s noch nicht! Tu’s noch nicht. Wir müssen fertig singen! Wir müssen fertig singen! Komm zurück, Mutter, komm zurück!«
Sie wollte seine kleinen, festen Hände von ihrem Kleide lösen und ihn beruhigen; aber er hatte sich so fest daran geklammert, dass sie es nicht vermochte, und immer ärger schrie er: »Komm wieder zurück, du hast ja gesagt, gar nichts dürfe man liegen lassen, wenn es nicht fertig ist, und wir sind nicht fertig, wir müssen das Lied fertig singen.«
Aber nun fing auch Kurt zu schreien an: »Lass los, du Zwingzange,