Krieg und Frieden. Лев Толстой
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»Komm her, Rostow, wir wollen unsern Kummer vertrinken!« rief Denisow, der sich am Rand der Chaussee bei einer Flasche und einem kalten Imbiß niedergelassen hatte.
Die Offiziere versammelten sich im Kreis um Denisows Proviantkorb, aßen und redeten miteinander.
»Da bringen sie noch einen!« sagte einer von ihnen und zeigte auf einen gefangenen französischen Dragoner, den zwei Kosaken zu Fuß vorbeitransportierten.
Der eine von ihnen führte das dem Gefangenen abgenommene große, schöne französische Pferd am Zügel.
»Verkaufe doch das Pferd!« rief Denisow dem Kosaken zu.
»Gern, Euer Wohlgeboren ...«
Die Offiziere standen auf und umringten die Kosaken und den gefangenen Franzosen. Der französische Dragoner war ein junger Bursche, ein Elsässer, der Französisch mit deutscher Färbung sprach. Er war vor Aufregung ganz außer Atem und hatte ein gerötetes Gesicht, und als er die Offiziere Französisch sprechen hörte, redete er sie schnell an, indem er sich bald an diesen, bald an jenen wendete. Er sagte, er würde sich nicht haben gefangennehmen lassen; daß er gefangengenommen sei, daran sei nicht er schuld, sondern sein Korporal, der ihn weggeschickt habe, um die Pferdedecken zu holen, obgleich er ihm gesagt habe, daß die Russen schon da seien. Alle Augenblicke sagte er dazwischen: »Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, und streichelte sein Pferd. Es war augenscheinlich, daß er sich nicht recht klar darüber war, wo er sich eigentlich befand. Bald entschuldigte er sich, daß er sich hatte gefangennehmen lassen, bald hatte er die Vorstellung, daß er seine Vorgesetzten vor sich habe, und suchte seine soldatische Pünktlichkeit und seinen Diensteifer ins rechte Licht zu setzen. So brachte er die eigentümliche Atmosphäre des französischen Heeres, die den Russen so fremd war, in ihrer ganzen Frische mit sich in unsere Vorhut hinein.
Die Kosaken verkauften das Pferd für zwei Dukaten, und Rostow, der jetzt, wo er Geld bekommen hatte, der reichste von den Offizieren war, kaufte es.
»Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, sagte der Elsässer gutherzig zu Rostow, als das Pferd einem Husaren übergeben wurde.
Lächelnd beruhigte Rostow den Dragoner darüber und gab ihm etwas Geld.
»Allö! Allö!« sagte der eine Kosak und berührte den Gefangenen am Arm, damit er weiterginge.
»Der Kaiser! Der Kaiser!« wurde plötzlich unter den Husaren gerufen.
Alles lief und hastete, und Rostow erblickte von hinten her auf dem Weg einige sich nähernde Reiter mit weißen Federbüschen. In einem Augenblick waren alle auf ihren Plätzen und warteten.
Rostow hatte gar kein Bewußtsein und Gefühl davon, wie er an seinen Platz lief und sich auf sein Pferd setzte. Verschwunden war augenblicklich sein schmerzliches Bedauern darüber, daß er nicht hatte am Kampf teilnehmen können, verschwunden die Alltagsstimmung, in der er sich inmitten der ihm schon so langweilig gewordenen Gesichter befunden hatte, verschwunden sofort jeder Gedanke an seine eigene Person: sein Herz war ganz erfüllt von der Glücksempfindung, die die Nähe des Kaisers in ihm hervorrief. Schon allein durch diese Nähe fühlte er sich für den Verlust des heutigen Tages entschädigt. Er war glücklich wie ein Verliebter, dem die ersehnte Begegnung endlich zuteil wird. Er wagte nicht, in Reih und Glied den Kopf zu drehen; aber er empfand mit dem Instinkt der Begeisterung die Annäherung des Kaisers. Und zwar merkte er das nicht nur an dem Klang der Hufschläge der sich nähernden Kavalkade, sondern er fühlte es daran, daß, je näher sie herankam, um so heller, freudiger, bedeutsamer, festtäglicher alles um ihn herum wurde. Immer mehr und mehr näherte sich ihm diese Sonne, Strahlen milden, majestätischen Lichtes um sich verbreitend, und nun fühlte er sich schon von diesen Strahlen umflossen, er hörte die Stimme des Kaisers, diese freundliche, ruhige Stimme, die zugleich so majestätisch und so schlicht klang. Eine Totenstille war eingetreten, wie es auch nach Rostows Empfindung gar nicht anders sein konnte, und in dieser Stille ertönte die Stimme des Kaisers.
»Die Pawlograder Husaren?« sagte er im Ton der Frage.
»Die Reserve, Euer Majestät«, antwortete eine andere Stimme, eine recht menschenartige Stimme nach jener einer höheren Welt angehörigen Stimme, die gesagt hatte: »Die Pawlograder Husaren?«
Der Kaiser war nun bis zu Rostow gelangt und hielt an. Das Gesicht Alexanders war noch schöner als bei der Truppenschau vor drei Tagen. Es glänzte von einer solchen Heiterkeit und Jugendfrische, von einer so unschuldsvollen Jugendfrische, daß es an die ausgelassene Munterkeit eines vierzehnjährigen Knaben erinnerte, und doch war es dabei zugleich das Antlitz eines majestätischen Herrschers. Während der Kaiser einen musternden Blick über die Eskadron gleiten ließ, begegneten seine Augen zufällig den Augen Rostows und blieben nicht länger als zwei Sekunden auf ihnen haften. Ob der Kaiser erkannte, was in Rostows Seele vorging, war wohl schwer zu sagen (Rostow war der Meinung, daß der Kaiser alles erkenne); aber er blickte ihm zwei Sekunden lang mit seinen blauen Augen, denen ein mildes, sanftes Licht entströmte, ins Gesicht. Dann zog er auf einmal die Brauen in die Höhe, stieß mit einer scharfen Bewegung des linken Fußes das Pferd an und galoppierte weiter in der Richtung nach vorn.
Der junge Kaiser hatte dem Wunsch, bei dem Kampf zugegen zu sein, nicht widerstehen können, hatte trotz aller Gegenvorstellungen seiner Umgebung um zwölf Uhr die dritte Kolonne, die er bis dahin begleitet hatte, verlassen und war in scharfer Gangart zur Vorhut geritten. Aber noch ehe er zu den Husaren gelangt war, waren ihm einige Adjutanten mit der Nachricht von dem glücklichen Ausgang des Kampfes entgegengekommen.
Das Treffen, das eigentlich nur darin bestanden hatte, daß eine französische Eskadron besiegt worden war, wurde als ein glänzender Sieg über die Franzosen dargestellt, und daher waren der Kaiser und die ganze Armee (namentlich solange sich der Pulverrauch noch nicht von dem Kampfplatz verzogen hatte) des Glaubens, die Franzosen seien besiegt und auf einem unfreiwilligen Rückzug begriffen. Einige Minuten, nachdem der Kaiser vorbeigeritten war, wurde auch diese Eskadron der Pawlograder nach vorn beordert. In dem kleinen deutschen Städtchen Wischau sah Rostow den Kaiser noch einmal. Auf dem Marktplatz, wo vor der Ankunft des Kaisers ein ziemlich heftiges Schießen stattgefunden hatte, lagen einige Gefallene und Verwundete, die man noch nicht Zeit gefunden hatte wegzuschaffen. Der Kaiser, von seiner militärischen und nichtmilitärischen Suite umgeben, ritt ein anderes Pferd als bei der Truppenschau, eine anglisierte Fuchsstute; sich zur Seite herabbiegend, hielt er mit einer anmutigen Bewegung seine goldene Lorgnette vor die Augen und betrachtete durch sie einen Soldaten, der mit dem Gesicht nach unten, ohne Tschako, mit blutigem Kopf dalag. Der verwundete Soldat sah so unsauber, plump und garstig aus, daß sich Rostow von dessen Anwesenheit in nächster Nähe des Kaisers peinlich berührt fühlte. Rostow sah, daß die herabgebeugten Schultern des Kaisers wie von einem durch sie hinlaufenden Schauder zusammenzuckten; er sah, daß der linke Fuß des Kaisers krampfhaft mit dem Sporn das Pferd in die Seite stieß, daß aber das dressierte Tier sich gleichmütig umsah und sich nicht von der Stelle rührte. Ein Adjutant stieg vom Pferd, faßte den Soldaten unter die Arme und schickte sich an, ihn auf eine schnell herbeigebrachte Tragbahre zu legen.
»Sachte, sachte, geht es denn nicht sachter?« sagte der Kaiser, der offenbar mehr litt als der sterbende Soldat, und ritt weiter.
Rostow sah, daß dem Kaiser die Tränen in den Augen standen, und hörte, wie er im Weiterreiten auf französisch zu Czartoryski sagte:
»Der Krieg ist doch etwas Furchtbares, etwas ganz Furchtbares!«
Die zur Vorhut gehörigen Truppen lagerten sich vor Wischau, gegenüber der feindlichen Vorpostenkette, die während dieses