Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus
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Gemeint ist damit Folgendes: Wie soll sich ein Mensch, der sich sprachlichkommunikativ nicht ausdrücken kann, der nicht über konstruktive Äußerungsmöglichkeiten wie Gebärdensprache, Bilder oder andere Formen einer »Unterstützten Kommunikation« (UK) verfügt, anders ausdrücken als über sein Verhalten?
Wir können als Menschen nicht nicht kommunizieren, wie es einmal benannt wurde.1 So können wir jedes Verhalten als Kommunikation verstehen – Rückzug, scheinbar situationsinadäquate Verhaltensweisen, expansivaggressive Zustände … alles, ohne Ausnahme, ist Kommunikation, oder anders ausgedrückt: »Sprache«. Es obliegt den Begleitern, zu versuchen, dieses jeweilige Verhalten zu »lesen«, diese »Sprache« nach und nach zu erlernen, also hinreichend zu verstehen. Und es gibt viele dieser Sprachen!
Entscheidend ist, diesen Zugang zu einem Verständnis nicht zu früh und zu schnell durch ein Urteil (beispielsweise, indem man den Begriff »Verhaltensstörung« ins Spiel bringt) zu verschließen.
aufmerksames Beobachten
Dieser Zugang des aufmerksamen Beobachtens ist der Beginn jeder Therapie.
Erst etwa seit den 1990er-Jahren wurde zunehmend erkannt, dass all die seelischen Erkrankungen, die wir bei sogenannten nicht behinderten Menschen kennen und behandeln, auch bei Menschen mit Behinderungen auftreten.
Ein wesentlicher Pionier auf diesem Weg ist der holländische Psychiater Professor Dr. Anton Došen, der 2010 schrieb: »Im letzten Jahrzehnt wurde der große Rückstand der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Behinderung zum Teil aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen mit einer intellektuellen Behinderung psychische Störungen – wie alle anderen Menschen auch – haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend akzeptiert.«2
Zusammenhänge verstehen
Wir sind heute weiter – haben aber noch eine lange Wegstrecke vor uns. Immer noch begegnet mir bei meinen Kontakten mit Betroffenen – vor allem aber mit Angehörigen, Mitarbeitern und Teams heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen – ein großes Bedürfnis, diese Zusammenhänge tiefer zu verstehen. In vielen Fortbildungen für Kollegien und Einrichtungen oder in Unterrichtssituationen vertiefte sich die Frage, wie therapeutische Strukturen aussehen und gestaltet werden könnten, die die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen. Dies darzustellen und zu entwickeln ist Anliegen dieses Buches.
Die folgenden Ausführungen sind von meinem persönlichen Hintergrund geprägt: Ich bin Psychiater, d.h. ich bin Arzt. Als solcher bin ich bemüht, die Erkrankungen gemäß einer allgemein gültigen Sichtweise in Diagnose und Therapie darzustellen. Und ich bin anthroposophisch orientierter Arzt – das bedeutet, dass ich in meiner ärztlichen Tätigkeit eine Erweiterung dieses gültigen medizinischen Ansatzes zu verwirklichen versuche. Diese Erweiterung findet sich insbesondere in den sogenannten »menschenkundlichen Beschreibungen«.
Menschenkunde
Der Begriff »Menschenkunde« geht auf Rudolf Steiner und sein erweitertes Menschenbild zurück. In meinem ärztlichen Tun eröffnet mir dieser Ansatz wesentliche Zugänge zum Verstehen von und Handeln mit erkrankten Menschen, insbesondere auch bei Menschen in Heilpädagogik und Sozialtherapie.
die Betroffenen verstehen
Das Buch folgt dabei einem ausgesprochen pragmatischen Ansatz: Sowohl die allgemeinen Beschreibungen der Krankheitsbilder, insbesondere aber die menschenkundlichen Erweiterungen verdienten vielfach eine breitere Ausführung. Vor dem Hintergrund des zur Verfügung stehenden Rahmens ist alles allein auf das Ziel ausgerichtet, das Verstehen der Betroffenen zu fördern sowie die therapeutischen Zugänge zu ihnen anschaulich darzulegen und somit zu erleichtern.
Zielgruppen
Das Buch richtet sich vor allem an Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, an Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger (HEP) und an in der Sozialpädagogik sowie der Sozialtherapie Tätige. Im Besonderen wendet es sich auch an Menschen, die sich in einer diesbezüglichen Ausbildung befinden. Ganz allgemein ist es für Menschen in sozial, medizinisch und pädagogisch ausgerichteten Berufen gedacht, auch für Ärzte, deren Tätigkeitsbereich nicht primär in diesem Bereich liegt; aber auch für Personen, die beispielsweise im Rahmen einer Behörde im Kontakt zu Menschen mit Unterstützungsbedarf stehen.
Eine wichtige Zielgruppe sind aber auch die Angehörigen. Oft lange alleine gelassen im Verstehen wie im Unterstützen ihrer Kinder oder Geschwister, sind sie doch – wie bereits erwähnt – diejenigen, die eine Kontinuität in der Begleitung gewährleisten, gerade auch in Zeiten kritischer Zuspitzung. Und letztlich hoffe ich, dass auch die Betroffenen selbst von diesen Darstellungen profitieren können.
Vorbemerkungen
Mensch im Allgemeinen angesprochen
•Unsere Sprache bietet kaum Möglichkeiten, sich in einheitlicher Form an Frau und Mann zu wenden. Das allgemeine Sprachgefühl ist sensibel geworden für die ungerechte Seite einer männlich dominierten Ausdrucksweise. Das Problem ist erkannt – aber eine befriedigende Lösung ist noch nicht gefunden. Die konsequente Anfügung der jeweils anderen Flexionsform verhindert das fließende Lesen. Im Folgenden geht es meist um den Menschen im Allgemeinen und um ein Zusammenwirken der Geschlechter. Zumal keine Frau ganz ohne männliche und kein Mann ohne weibliche Anteile ist. Mit meiner Entscheidung, dem tradierten Sprachgefühl zu folgen und den Menschen in der männlichen Form zu benennen, will ich nichts Männliches über Weibliches stellen. Ich bin mit meiner Entscheidung nicht zufrieden, weiß aber – noch – keine bessere.
Mensch als geistiges Wesen
•Das Buch handelt von besonderen Menschen. Sie alle tragen etwas, das sie von einer sogenannten »Normalbevölkerung« abhebt, sei es die besondere Konstitution, die von einer veränderten Gestaltung ihrer Chromosomen herrührt, und/oder eine Beeinträchtigung ihrer Gehirnentwicklung oder -funktion. Vor Jahren sprach man von »Behinderung«, von einer »geistigen Behinderung« zumal. Die heutige Form der Beschreibung ist davon meist abgerückt – zu Recht, wie ich meine: kann man doch gerade das »Geistige«, sieht man es als die spirituelle oder transzendente Seite des Menschen an, letztlich als »unkrankbar« beschreiben – sie ist, nicht mehr und nicht weniger. Der Mensch ist ein geistiges Wesen – jeder Mensch –, und dieses kann nicht behindert sein. Vor allem außerhalb der Fachkreise ist der Begriff der Behinderung allerdings noch immer weit verbreitet. Diesem Umstand ist die Verwendung in der Titelformulierung dieses Buches geschuldet.
In der anthroposophisch orientierten Heilpädagogik hat Rudolf Steiner den Begriff »Seelenpflege-bedürftige Menschen« vorgeschlagen und hier die Förderung seelischer Fähigkeiten in den Vordergrund gestellt. Damit sind die Förderung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sowie Aspekte von Antrieb und Motivation gemeint, wie später noch erläutert wird (siehe Seite 61 f.). Heute finden wir eher die Beschreibungen »Menschen mit Intelligenzminderung« oder auch »Menschen mit Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarf«. Ich habe mich diesen letzteren Benennungen in meinem Buch im Wesentlichen angeschlossen, auch in Ermangelung eines Begriffs, der sich nicht mehr am Defizit, an der Einschränkung orientieren muss – vielleicht finden sich