Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus
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Umso wesentlicher ist – gerade unter dem Aspekt einer gelingenden Biografie – das Bemühen um eine umfassende und anhaltende Förderung. Die Stärkung der Resilienz, der »seelischen Widerstandskraft«, aufbauend auf versichernde Bindung und ermutigende Beziehungsgestaltung, wird zum zentralen Anliegen heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Begleitung.
Einzigartigkeit jeder Biografie
Die Besonderheit und Unverwechselbarkeit jeder Biografie hat Viktor E. Frankl eindrücklich beschrieben: »Der Mensch muss sich auch dem Leid gegenüber zu dem Bewusstsein durchringen, dass er mit diesem leidvollen Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt [oder darin begleitet wird, Anm. d.V.], darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung.«5
Es gibt viele Wege, einen Zugang zur menschlichen Biografie zu finden, ihre Bedingungen zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen. Ein für mich wesentlicher Zugang sind die einer Biografie zugrunde liegenden Rhythmen und inneren Bedingungen, wie sie der anthroposophisch orientierte Ansatz eröffnet.
biografische Rhythmen
Neben einem eigenen, inneren – vielleicht auch einsamen – Weg gibt es für die Entfaltung der Biografie noch übergeordnete Faktoren. In seiner anthroposophisch begründeten Menschenkunde beschreibt Rudolf Steiner diese Entwicklungsgesetze allgemeiner, überpersönlicher Art: neben anderen Rhythmen vor allem das Prinzip der Siebenjahresrhythmen (»Jahrsiebte«) und der »Mondknoten« (siehe das folgende Kapitel). Wer mit diesen Gedankengängen nicht bereits vertraut ist, kann sie unvoreingenommen auf ihre Plausibilität prüfen und die eigene Entwicklung und die nahe stehender anderer Menschen unter diesen Gesichtspunkten anschauen.
In jeder einzelnen menschlichen Biografie existiert ein individueller Spielraum, der das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und individueller Ausprägung sichtbar werden lässt.
Menschenkundliche Aspekte zur Biografie
Die Jahrsiebte
leibliche Reifung
Hinter dem individuellen Schicksal kann neben anderen Rhythmen derjenige von Siebenjahres-Perioden mitprägend gesehen werden. In den ersten drei Abschnitten, bis zum 7., bis zum 14. und bis zum 21. Lebensjahr, erfolgt vornehmlich die leibliche Reifung, mehr oder minder »durch das Schicksal bestimmt«.
Im ersten Abschnitt bzw. »Jahrsiebt« ist die Entwicklung von einem Aufnehmen und Nachahmen des Erlebten geprägt. Leitmotiv für den Erzieher gegenüber dem Kind kann hier die Stimmung sein: »Die Welt ist gut.«
Vom 7. bis zum 14. Lebensjahr besteht bei einem Kind das Bedürfnis, die es umgebende Welt empfindend mitzuerleben, unterstützt durch die Stimmung: »Die Welt ist schön.«
Im dritten Jahrsiebt steht dann ein zunehmend verstehendes Lernen der Bedingungen der Welt im Vordergrund, unterstützt durch die Stimmung: »Die Welt ist wahr.«
Das vierte Jahrsiebt, vom 21. bis zum 28. Lebensjahr, lässt Menschen oft die Fülle der Möglichkeiten der Welt erleben: bis an Grenzen gehen, Freiheit und Verantwortung ausbilden, zunehmend lernen, eigene Urteile zu bilden, dabei aber zu frühe Festlegungen vermeiden, all das ist in dieser Lebensphase wichtig.
28. Lebensjahr
Eine besondere Bedeutung in der Biografie eines Menschen stellt das 28. Lebensjahr dar. Es wirkt oft so, als sei vieles von dem, was einem Menschen »geschenkt« wird, mit diesem Alter in gewisser Hinsicht abgeschlossen; jetzt muss das Leben stärker aus eigener Kraft bewältigt werden.
weitere Jahrsiebte
Im fünften Jahrsiebt, bis zum 35. Lebensjahr, hat sich oft ein konkreter Lebensort gebildet, man ist dann oft »niedergelassen«. Eine mögliche Verstrickung in äußere Verhältnisse kann hier die freie Entfaltung der Biografie beeinträchtigen. Freude an der Fähigkeit zu eigenen Leistungen und die zunehmende Übernahme von Verantwortung prägen diese Zeit.
Im sechsten Jahrsiebt, vom 35. bis zum 42. Lebensjahr, stellt sich zunehmend die Frage, was wirklich wichtig ist – auch die Frage nach dem eigenen Wirksamwerden in der Welt. Sinnfragen tauchen vermehrt auf, vielleicht auch das Bedürfnis, über sich hinauszublicken und Neues zu wagen.
Im siebten dieser Abschnitte, vom 42. bis zum 49. Lebensjahr, kann das Bedürfnis entstehen, die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben, vielleicht eine Erneuerung aus einer überpersönlichen Perspektive heraus zu suchen. Das Bestreben, Eigenes in die Welt zu stellen, kann vorherrschend werden.
Im Jahrsiebt zwischen dem 49. und dem 56. Lebensjahr kann auch die Entwicklung und Förderung anderer wesentlich für einen Menschen werden; erworbene Kompetenzen möchten jüngeren Menschen zur Verfügung gestellt werden, Selbstlosigkeit kann zunehmende Bedeutung erlangen – vor dem Hintergrund einer wachsenden Fähigkeit, Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen.
Im Lebensabschnitt vom 56. bis zum 63. Lebensjahr entsteht die Möglichkeit, den Blick zunehmend nach innen zu richten; ein bewusster Umgang mit Verzicht, eine wachsende Fähigkeit, »abschiedlich« zu leben, kann sich einstellen.
In dem dann anschließenden Jahrsiebt vom 63. bis zum 70. Lebensjahr kann die Fähigkeit des »Sich-Schenkens« als tief befriedigend erlebt werden.
Hilfe zum Verständnis der Entwicklung
Selbstverständlich sind damit die charakteristischen Merkmale der Jahrsiebte nur kurz angedeutet und in keiner Weise erschöpfend dargestellt. Ich empfinde diese Gesichtspunkte aber als wesentliche Hilfe zum Verständnis einer biografischen Entwicklung.
Aus dem bisher Gesagten mag bereits deutlich werden, in welch eingeschränktem Maße die biografische Entwicklung von Menschen mit Assistenzbedarf zunächst unter diesen Aspekten gesehen werden kann bzw. wie schwierig es für einen Begleiter sein kann, diese Aspekte bei den ihm anvertrauten Personen zu verfolgen. Doch auch wenn die Bedingungen oft eingeschränkt sind, können und sollten wir versuchen, diese übergeordneten Gesetzmäßigkeiten einer Biografie aufzusuchen.
Um noch einmal Romano Guardini zu Wort kommen zu lassen: »Jede Phase hat ihren eigenen Charakter, der sich so stark betonen kann, dass es für den sie Lebenden schwer wird, aus ihr in die nächste überzugehen.«6
Mondknoten
Was verbirgt sich hinter den sogenannten Mondknoten?
Zusammentreffen von Vergangenheit und Zukunft
Alle 18 Jahre, 7 Monate und 9 Tage steht der Schnittpunkt der Bahnen von Sonne und Mond im Verhältnis zum Fixsternhimmel an derselben Stelle wie bei der Geburt eines Menschen. Wenn wir den Mond als Ausdruck für Vergangenes